Im Wintersemester 1968/69 immatrikulierte ich an der Leopold-Franzens-Universität. Bis dahin hatte ich mein Leben in einer Kleinstadt verbracht und der Schul-Ort, an dem ich kurz zuvor meine Hochschulreife erlangt hatte, war auch nicht viel größer. Mit der Eisenbahn in der Universitätsstadt angelangt, wurde ich am Hauptbahnhof von Vater und Sohn einer Innsbrucker Familie abgeholt; beide waren Mediziner und gehörten einer örtlichen Studentenverbindung an. Mein Vater hatte alles vorgeplant: ich sollte, wie er selbst, zunächst Corpsstudent und später Arzt werden.
Da ich sonst noch niemanden am Ort kannte, lebte ich mich schnell in die Corpsgemeinschaft ein. In der Folge erschloß sich mir eine völlig neue bunte Welt. Weniger, weil wir Corpsbrüder bei Veranstaltungen Bänder und Mützen in den Farben unserer Verbindung trugen und die Angehörigen vieler anderer studentischen Vereinigungen ebenso, sondern hauptsächlich, weil sich die Korporationen, trotz gemeinsamer Eigenarten, auch wieder deutlich voneinander unterschieden.
Am Mittwoch war für alle farbentragenden Verbindungen Couleurtag. Der übervolle Hörsaal der Anatomie bot ein besonders prächtiges Bild, denn gut ein Drittel aller Hörer trug Couleur. Von den älteren Corpsbrüdern wurde man mit den Farben der anderen Korporationen vertraut gemacht. Je artverwandter diese der eigenen Verbindung waren, desto ausführlicher fielen weitere als wesentlich erachtete Unterweisungen aus.
Später, bei der Burschenprüfung, waren diese Kenntnisse von Belang. Man hatte Namen und Farben der örtlichen schlagenden Verbindungen zu kennen, mußte deren Zirkel malen können und ihr Gründungsjahr wissen, da man der Ansicht war, daß davon Rang, Würde und Bedeutung der einzelnen Korporationen abhinge.
Die übrigen couleurtragenden Verbindungen wurden als katholische Verbindungen bezeichnet und man unterschied sie in solche, die dem CV, dem KV oder dem Unitas-Verband angehörten. Über sie mußte man weniger wissen: von den CVern die Mützenfarben und daß die „Austria“ die älteste sei, von den KVern und den Unitariern nur die Namen. Daß es noch weitere katholische Studentenverbindungen gab, wußten nur ganz besonders versierte Fuchsmajore. Man begnügte sich mit Grundkenntnissen.
Angehörigen anderer schlagender Verbindungen zu begegnen, boten gemeinsame Veranstaltungen erste Gelegenheit. Gegenüber Mitgliedern katholischer Korporationen verhielt man sich diesbezüglich zurückhaltend. Die Möglichkeit, sich im Zuge der Teilnahme an Kursen, Seminaren oder Praktika auf der Universität näher zu kommen, hatte selten mehr als fachlich bezogene Kontakte zur Folge. Kennenlernen durch gemeinsame Bekannte führte noch am ehesten zu freundlichem Umgang miteinander.
Daß man die eigene Verbindung für besser hielt als andere war nichts gänzlich Neues, hatte man ja auch in der Schule beobachten können, welch gute Klassengemeinschaft die eigene war, während man die Parallelklassen als deutlich weniger sympathisch empfand. Bei den schlagenden Korporierten urteilte man vergleichbar, aber mit der Zeit kam man sich doch näher und lernte dadurch den Einen oder Anderen sogar schätzen. Der fehlende Umgang mit Mitgliedern katholischer Verbindungen hielt jedoch die Überzeugung aufrecht, daß sich diese keinesfalls mit den waffenstudentischen Verbindungen messen könnten.
Bei der Entstehung derartiger Beurteilungen spielte das Empfinden von Rivalität keine Rolle, denn daß einmal beim Eintritt ins Berufsleben und später bei Beförderungen die Zugehörigkeit zu einer Verbindung von Bedeutung sein könnte, war nicht nachvollziehbar. Solches kannte man zwar als steten Vorwurf aus den Reihen der Korporationsgegner, aber nicht in der Wirklichkeit.
Daß ein bedeutender Teil der Studenten zur Zeit der Monarchie nicht nur auf karge Stipendien, sondern auch auf einen schmalen Zuverdienst als Nachhilfelehrer, Leiter eines Kirchenchores oder Stenographist im Landtag angewiesen war, weil viele Eltern das Studium, auch nur eines Sohnes ihrer zahlreichen Kinderschar, selbst unter Entbehrungen nicht finanzieren konnten, und daß dann zur Erlangung solcher Tätigkeiten Empfehlungen des Bürgermeisters der Heimatgemeinde, oder noch besser des Herrn Pfarrers, hilfreich gewesen sein konnten, davon hatte man noch nie etwas gehört.
Daß also Gefälligkeiten, von denen man nichts wußte, und Protektionen, die man nicht kannte, Grund für die immer noch bestehende Reserviertheit zwischen katholischem und freisinnigem Lager sein könnten, ist wohl auszuschließen. Und als Ursache die schwierige Zeit nach dem ersten Weltkrieg anzuführen, als politische Lager sich so feindlich gegenüberstanden, daß es zu Ausschreitungen und Exzessen kam, die heute nicht mehr nachvollziehbar sind, ist auch nicht recht überzeugend.
Diese Epoche mag die Großelterngeneration der heutigen Jugend ihr Leben lang tief geprägt haben, aber für deren Enkel scheint es nicht angebracht Ressentiments anzuhängen, die einer selbst nicht erlebten Zeit entstammen und Empfindungen zu tradieren, die einem kollektiven Gedächtnis entspringen mögen. Schlagend oder nichtschlagend war von Anfang an ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal studentischer Verbindungen und ist es bis heute geblieben. Dem jeweils anderen Lager den verdienten Respekt abzusprechen, nur weil es nicht dem eigenen angehört, sollte heute aber niemandem mehr einfallen.
Vor einigen Jahren teilte ein Student aus Bozen und Mitglied der dortigen CV-Verbindung einem Innsbrucker Corps mit, daß er am Dachboden seines Wohnhauses ein altes Trinkhorn gefunden hätte, das sich diesem Corps zuschreiben ließe und das er gerne seinen Alteigentümern wieder zukommen lassen wolle. Das Angebot wurde freudig angenommen.
Zur vereinbarten Übergabe, im Rahmen einer geselligen Zusammenkunft in Südtirol, traf sich der Besitzer des Horns, begleitet von Kommilitonen, mit den Angehörigen des Innsbrucker Corps. Man saß anschließend noch lange gemütlich beieinander, unterhielt sich bestens und kam schließlich überein, sich auch im folgenden Jahr wieder in Südtirol treffen zu wollen. Möge es häufiger zu solch unbelasteten Begegnungen kommen; es muß ja nicht gleich „der Beginn einer wunderbaren Freundschaft“ daraus werden.
Stephan Schaumberger (C! Athesia Innsbruck) ist semesterreicher Corpsstudent und lebt in Linz.