Eigentlich sollte ja die Frage, ob Österreich eine eigene Nation ist – und wie lange schon – oder ein Bestandteil der deutschen (Kultur-)Nation oder ob Österreich nur ein zweiter deutscher Staat ist, ob es eine österreichische Identität gibt usw. gar keine Aktualität mehr haben. Man sollte meinen, dass die Wirklichkeit diese theoretischen Diskussionen längst überholt habe.
Während das Nationalbewusstsein der Österreicher im Jahr 1956 auf 49 Prozent Zustimmung und 47 Prozent Ablehnung stieß, stieg es in den 70er Jahren stark an – auf 64 Prozent, zehn Prozent verneinten es und 16 Prozent sahen es in Entwicklung. Die Erfolgsgeschichte der Zweiten Republik und das Verschwinden der deutschnationalen Frage machten sich bemerkbar. Ab den 80er Jahren war der Deutschnationalismus kein Thema mehr: 74 Prozent der Österreicher sahen sich als eigene Nation, nur sieben Prozent verneinten das und 17 Prozent sprachen von einer Entwicklung in Richtung Nationalbewusstsein. In den 90er Jahren verstärkte sich der Trend auf 78 Prozent Zustimmung zu einer österreichischen Nation, 2007 waren es 82 Prozent, acht Prozent sprachen von einer Entwicklung in diese Richtung. Da erkannten sogar die Freiheitlichen, dass sie mit deutschnationalen Anwandlungen nicht mehr Wähler gewinnen, sondern nur mehr verlieren konnten, strichen die Deutschtümelei offiziell aus ihrem politischen Repertoire und propagierten den „Österreich-Patriotismus“. Wieviel da noch Österreichisch-Deutsches drinnen steckt, sei dahingestellt. Nach Umfragen stellt selbst unter den Anhängern des „Dritten Lagers“ nur noch eine kleine Minderheit von 17 Prozent die österreichische Nation in Frage.
Für mich ist klar, dass die österreichische Identität und die deutsche Identität historisch gesehen schon ziemlich lange getrennt zu sehen sind. Die kollektive kulturelle, soziale, historische, sprachliche und ethnische Identität, das „Wir-Gefühl“ der Österreicher, sind ganz anders historisch gewachsen und von anderen Faktoren bestimmt worden als die deutsche Identität. Die katholische Weltauffassung und das Italienisch-Barocke prägten die österreichische Kultur von der Gegenreformation bis Maria Theresia, während die protestantische Weltanschauung und der französische Klassizismus das Geistesleben Deutschlands bestimmten.
Das Zusammengehörigkeitsgefühl der Österreicher, das uns von Bürgern anderer Staaten unterscheidet, ist tief in der Zeit der Habsburger-Monarchie, im Ringen um die Identität in der Ersten Republik, in den Enttäuschungen durch das Preußische im Nationalsozialismus und in der Entwicklung seit 1945 begründet.
Natürlich sind die deutsche Sprache und die darauf begründete Kultur dominante Prägungsfaktoren der österreichischen Identität, aber genauso haben die slawischen, ungarischen, ukrainischen, polnischen, mediterranen Einflüsse aus der Zeit der Habsburger-Monarchie die österreichische Nationswerdung entscheidend beeinflusst. Verwaltung und Militär, Wirtschaft und Kultur nahmen die Einflüsse von Galizien bis Triest, von Vorarlberg bis Siebenbürgen, von Böhmen bis Bosnien auf. Natürlich verteilten sich diese Einflüsse im Bereich des heutigen Österreich unterschiedlich. Östlich der Enns war die Prägung durch die genannten Faktoren viel stärker als in den heutigen westlichen Bundesländern. Niederösterreich, Oberösterreich, Wien, Steiermark waren immer viel „österreichischer“ als etwa Salzburg, das erst seit rund 200 Jahre bei Österreich ist und erst sehr spät ein Österreich-Bewusstsein entwickelte. Tirol kaisertreu und katholisch, Vorarlberg Schweiz-affin und Wien-kritisch. Letztlich aber haben alle Bundesländer, spätestens ab dem Ende des 2. Weltkrieges ihr österreichisches Nationalbewusstsein, verbunden mit einem teilweise starken Landesbewusstsein, aufgebaut. Es darf nicht vergessen werden, dass der Föderalismus zur österreichischen Identitätsbildung ganz entscheidend beigetragen hat.
Ab dem Ausgleich mit Ungarn 1867 geriet der Begriff „Österreich“ in eine permanente Krise. Er konnte sich im Wesentlichen nur auf die nicht-ungarischen Teile der Habsburgermonarchie zurückziehen. Auch wenn sich der Name „Österreich“ offiziell nur auf den „diesseitigen“ Staat der Doppelmonarchie beziehen konnte, wurde er inoffiziell und offiziös mannigfach verwendet, nämlich als Kronland, als „diesseitiger“ Staat bzw. umgangssprachlich auch Österreich als Gesamtmonarchie. Lange gelang es den deutschsprachigen Österreichern, die Loyalität zur habsburgischen Dynastie und zum Kaiser aufrecht zu erhalten, Armee und Beamte wurden auf das Herrscherhaus vereidigt. Die Identifikation mit der jeweiligen Volksgruppe wurde allerdings immer dominanter. Aus den deutschen Österreichern in der Habsburger Monarchie wurden – in Abgrenzung zu den ebenfalls immer nationaler werdenden Ungarn und Slawen – die österreichischen Deutschen.
Die Nationsbildung der deutschen Österreicher begann in der Zeit von Josef II., vor allem im deutschsprachigen Bürgertum und da wieder vor allem in der kaiserlichen Bürokratie. Diese war die zentrale Trägerschicht des österreichischen Staatsgedankens und unterschied sich von den „Deutschnationalen“. Die „schwarz-gelben“ Deutschösterreicher als kaisertreue Bourgeoisie hatten die „schwarz-rot-goldenen“ Revolutionäre zum Feindbild. Letztere gehörten in Österreich zu den größten Kritikern des Hauses Habsburg, sahen sie in diesem doch das Haupthindernis einer Vereinigung mit dem Deutschen Kaiserreich. Der extremste Vertreter einer großdeutschen Lösung war Georg von Schönerer, der nicht nur die Habsburgermonarchie insgesamt ablehnte, sondern auch die staatstragende römisch-katholische Kirche, gegen die er die Los-von-Rom-Bewegung gründete.
Der deutsch-völkische Nationalismus, verbunden mit einem unterschiedlich starken Antisemitismus, beschränkte sich nicht nur auf das bürgerlich-deutschnationale Milieu, sondern prägte von Anfang an den aufstrebenden Sozialismus.
Schon 1868 hieß es in einem Manifest an die Arbeiter Wiens: „Die deutsche Arbeiterpartei überall weiß, dass wir nur ein Vaterland haben: Unser Deutschland! Wir wissen, dass wir eine Nation sind und eine Nation bleiben wollen!“ Friedrich Engels trat für die Zerschlagung des Vielvölkerstaates Österreich und die Angliederung der deutschsprachigen Gebiete an Deutschland ein, der allerdings eine Germanisierung der „geschichtslosen“ Tschechen vorangehen müsse. Auch andere führende sozialdemokratische Politiker wie Victor Adler oder Engelbert Pernerstorfer hatten eine deutschnationale Vergangenheit.
Die durch die Sprachenverordnung von 1897 des Grafen Badeni, Ministerpräsident des österreichischen Teils der k.u.k. Monarchie, – nach der alle Beamten in Böhmen beide Landessprachen beherrschen mussten – ausgelöste Badeni-Krise ließ die Identifikation der deutschen Bevölkerungsgruppe der Habsburgermonarchie mit „Österreich“ schwinden. Radikal-deutschnationale Strömungen konnten sich immer mehr durchsetzen. Das sprachnationale Bewusstsein trat immer mehr in Konkurrenz zum dynastisch-österreichischen Bewusstsein.
Andererseits fand ab etwa 1870 und während des Ersten Weltkrieges und danach sowohl im katholischen als auch im liberalen Lager gegenüber dem deutschnational-freiheitlichen Lager ein Prozess zunehmender Verösterreicherung und bewusster Abgrenzung von einer deutschen Identität, insbesondere vom Preußischen, statt. Die „österreichische Idee“ sollte dabei die Vermittlerrolle zwischen der lateinischen, germanischen und slawischen Zivilisation im Rahmen der Pluralität der Habsburgermonarchie einnehmen.
Der Begriff „Österreich“ war so eng mit dem Habsburgerreich verbunden, dass nach dem Zusammenbruch der Monarchie zumindest Hemmung, wenn nicht – wie bei den Sozialdemokraten – aggressive Ablehnung bestand, diesen Begriff mit der neu entstehenden Republik zu verbinden. So sollte der neue Staat nach den Verfassungsentwürfen Karl Renners vom Oktober 1918 „Republik Südostdeutschland“ oder „Deutsche Alpenlande“ heißen. Heinrich Lammasch wiederum wollte den neuen Staat neutral gestalten und ihn nicht in die Arme Deutschlands treiben und schlug daher die Bezeichnungen „Norische Republik“ bzw. „Ostalpine Republik“ vor. Die Christlichsoziale Partei wiederum sprach in ihrem Verfassungsentwurf vom 14. Mai 1919 vom „Deutschen Bundesfreistaat Österreich“. Von Ignaz Seipel war – wie Gerald Stourzh betonte – bekannt, dass er sich mehr als Statthalter eines österreichischen Transitoriums betrachtete, das in ein größeres osteuropäisches Staatsgebilde münden sollte.
Obwohl nach dem Ende des 1. Weltkrieges der Zusammenschluss mit dem Deutschen Reich und der gewählte Staatsname „Deutschösterreich“ in den Friedensverträgen von Versailles verboten wurden, blieb die Perspektive des Anschlusses im „Rumpfstaat“, an dessen wirtschaftliche Lebensfähigkeit kaum jemand glaubte, auf der Tagesordnung. Die „Anschlussabstimmungen“ in mehreren Bundesländern zeugen davon. Andererseits stand die erste deutsche Nachkriegsregierung dem vehement artikulierten Wunsch Österreichs nach einem Anschluss durchaus distanziert gegenüber, was sich erst unter dem deutschen Außenminister Gustav Stresemann änderte.
In der Ersten Republik zerfiel das deutschnationale Lager in drei unterschiedlich große politische Richtungen, die sich bis 1934 zum Teil heftig bekämpften. Die Großdeutsche Volkspartei, die entschieden für die Vereinigung Österreichs mit Deutschland eintrat, hatte das Schwarz-Rot-Gold der deutschen Revolution von 1848 als Parteifarben und war eine Partei der Beamten, der Gewerbetreibenden, Kaufleute und Freiberufler. Sie hatte zwar einige liberale Elemente, war aber antisemitisch und deutlich antiklerikal. Letzteres verband sie mit den Sozialdemokraten. Nach der 1933 beschlossenen Kampfgemeinschaft mit den österreichischen Nationalsozialisten wurde die Großdeutsche Partei von der NSDAP inhaliert. Diese wiederum hatte als Vorläufer zuerst die Deutsche Arbeiterpartei (DAP) und dann die Deutsche Nationalsozialistische Arbeiterpartei (DNSAP), eine radikale, völkische, deutschnationale, antikapitalistische, antikommunistische und antisemitische Partei, die schließlich in die NSDAP überging.
Im bäuerlichen Bereich war es der „unpolitische“ Landbund, der deutschnational auf christlicher Grundlage ausgerichtet war, für einen „Ständestaat“ und gegen die Heimwehren auftrat.
Mindestens ebenso vehement wie alle diese deutschnationalen Parteien strebte ab 1918 die Sozialdemokratische Arbeiterpartei den Anschluss an Deutschland an. Einer der extremsten Vertreter des Anschluss-Gedankens war Otto Bauer, der nicht zuletzt deshalb auf Druck der Siegermächte im Juli 1919 als Außenstaatssekretär zurücktreten musste, um die Verhandlungen mit der Entente nicht zu erschweren.
Im Linzer Parteiprogramm 1926 wurde immer noch bekräftigt: „Die Sozialdemokratie betrachtet den Anschluss Deutschösterreichs an das Deutsche Reich als notwendigen Abschluss der nationalen Revolution von 1918. Sie erstrebt mit friedlichen Mitteln den Anschluss an die deutsche Republik.“
Am 12. November 1925 erklärte der österreichische Sozialdemokrat Julius Deutsch bei einer Kundgebung mit dem deutschen „Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold“ vor tausenden Sozialdemokraten in Wien: „Unser Wunsch und unser Ziel ist von der Nordsee bis zu den Karawanken, vom Rhein bis zum Neusiedler See ein einheitliches deutsches Volk, in einer deutschen Republik!“ Er hoffte, dass bald „die Fahne Schwarzrotgold als die Fahne der Republik über Österreich und Deutschland wehen“ würde.
Noch 1928 schrieb Karl Renner im Vereinsorgan des Österreichisch-Deutschen Volksbundes „Der Anschluss“: „Die Österreicher waren niemals eine Nation für sich und haben niemals gewünscht, dies zu sein. Österreich war durch Jahrhunderte der führende Stamm der Deutschen.“ Erst am 30. Oktober 1933 wurde der Anschlussparagraph aus dem sozialdemokratischen Parteiprogramm gestrichen.
Natürlich gab es auch unter den Christlichsozialen Anhänger des Anschlusses, sie waren allerdings nicht so prominent wie jene aus dem großdeutschen und sozialdemokratischen Lager. Die Christlichsozialen traten – mit Rücksicht auf die Stimmung in einem Großteil der Bevölkerung – nicht offen gegen den Anschlussgedanken auf, engagierten sich allerdings kaum in den Organisationen wie etwa im Österreichisch-Deutschen Volksbund, der eindeutig von den Sozialdemokraten dominiert wurde. Im Christlichsozialen Wahlprogramm 1919 fand sich kein Hinweis auf den Anschluss, in weiterer Folge vertraten die entscheidenden Persönlichkeiten eine enge kulturelle und wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Deutschland, allerdings auf der Basis eines selbständigen, lebensfähigen Österreich. Durch die von Bundeskanzler Seipel erreichte Genfer Sanierung entwickelte sich – vor allem auf christlichsozialer Seite – so etwas wie ein neuer österreichischen Patriotismus. Der christlichsoziale Bundeskanzler Rudolf Ramek etwa – ein Konsenspolitiker – versuchte in seiner Politik alles, um Österreich so stark zu machen, dass es in der Lage wäre, seinen eigenen, selbständigen Weg zu gehen. Die „Lebensfähigkeit“ Österreichs sollte unter Beweis gestellt werden.
Es gab aber auch in den Zwanzigerjahren klare Vertreter einer katholisch-konservativen (z. T. monarchistisch) geprägten Bewegung, die in den Österreichern keinen deutschen Stamm, sondern ein eigenständiges Volk sahen. Die Proponenten waren Ernst Karl Winter, Alfred Missong und Hans Karl Zeßner von Spitzenberg, die dies 1927 in ihrem Sammelband „Die österreichische Aktion“ artikulierten. Schon im Nationalratswahlkampf 1923 hatte Zeßner von Spitzenberg Bundeskanzler Seipel als jenen Politiker gepriesen, der die Österreicher den Glauben an die Heimat, den Willen zum Österreichertum wieder finden ließe. Seipel habe sich mit der Genfer Sanierung nicht westlich, sondern österreichisch orientiert und die „Herztätigkeit Wiens und der Donaulande für ganz Mitteleuropa, ja für Europa“ aufgegriffen.
Im „Ständestaat“ spielte die Stärkung des Österreichbewusstseins als Gegengewicht zum nationalsozialistischen Deutschland eine wichtige Rolle. Österreich galt zwar weiter als ein „deutsches“ Land, allerdings wurden seine eigenen Leistungen, seine Kultur und Geschichte bewusst stark hervorgehoben und dienten zur Legitimierung des autoritären Systems. Die Idee der österreichischen Nation – propagiert vor allem von Richard Coudenhove-Kalergi, Ernst Karl Winter und dem Kommunisten Alfred Klahr – wurde als Kampfbegriff gegen den Nationalsozialismus neu belebt.
Als dann vor 80 Jahren, am 12. März 1938, die deutschen Truppen in Österreich einmarschierten, und Adolf Hitler mit der „größten Vollzugsmeldung seines Lebens“ auf dem Wiener Heldenplatz vor der deutschen Geschichte pathetisch den Eintritt seiner Heimat in das Deutsche Reich meldete, ging der Traum des Deutschnationalismus in Österreich in Erfüllung.
In der Euphorie des März 1938 schien jedes Österreichbewusstsein verschwunden zu sein, Österreich war nur mehr ein historischer Begriff und musste dem Begriff „Ostmark“ weichen und selbst dieser wurde später verboten. Karl Renner bot den Nazis an, in einer Plakataktion und in Zeitungen für ein „Ja“ bei der Anschluss-Abstimmung Propaganda zu machen, begrüßte in einem Interview „die große geschichtliche Tat des Wiederzusammenschlusses der deutschen Nation“ mit „freudigem Herzen“ und erklärte, mit „Ja“ zu stimmen. Dies tat er, wie er später betonte, „spontan und in voller Freiheit“ und im Wissen der Wirkung auf seine ehemaligen Parteigenossen. Und das in Kenntnis dessen, was Hitler in Deutschland seit 1933 angerichtet hatte und im Wissen, dass die ersten KZ-Transporte auch mit prominenten Genossen bereits unterwegs waren.
Recht bald, aber spätestens 1939 machten sich schon die ersten Frustrationserscheinungen aufgrund der Spannungen zwischen den „Altreichsdeutschen“ und den „Ostmärkern“ bemerkbar. Zu groß waren die Unterschiede zum neuen, reichsdeutschen Herrschaftspersonal, das die Ostmärker seine Überlegenheit spüren ließ. Sogar die österreichischen Nazis fühlten sich bald vor den Kopf gestoßen, als sich die ersehnten, wiedergefundenen Brüder wie unausstehliche Kolonialherren aufführten. Daraus entwickelten sich eine Distanzierung vom nationalsozialistischen Regime und in weiterer Folge „Österreich-Tendenzen“ sowie eine innere Wiederentdeckung Österreichs, die schließlich nach 1945 zu einem österreichischen Nationalbewusstsein auf breitem gesellschaftlichem Konsens führten und sich in einem „Identitäts- und Zusammengehörigkeitsgefühl“ der Angehörigen der österreichischen Nation manifestieren.
Ich bin persönlich davon überzeugt, dass die nach 1945 entwickelte, moderne österreichische Identität – zu der besonders auch die österreichische Neutralität zählt – und das zunehmende österreichische Nationalbewusstsein in einer direkten, nie wirklich abgerissenen Verbindung zum Österreich-Bewusstsein aus der Habsburger-Monarchie stehen bzw. von diesem grundgelegt wurden. Auch wenn sie in der Zwischenkriegszeit und vor allem während des Zweiten Weltkrieges weitgehend verschüttet wurden. Das „Österreichische“, das schließlich die eigene, unbestrittene „Österreichische Nation“ grundlegte ist die Fortsetzung eines langen, in frühere Jahrhunderte zurückreichenden historischen Kulturstranges. Verstärkt wurde dies noch durch den Beitritt Österreichs zur Europäischen Union im Jahr 1995, wodurch der Vielvölkerstaat der Donaumonarchie als „Europa im Kleinen“ noch stärker ins kollektive Bewusstsein rückte und eine Renaissance erlebte, die nicht so sehr mit Vergangenheitsverklärung und Habsburg-Nostalgie als mit der Wiederentdeckung des Kulturraums Mitteleuropa – ohne Deutschland – zu tun hat. Die neue „Brückenfunktion“ Österreichs zwischen Brüssel und den ehemaligen Ländern der Habsburger-Monarchie – eine Aufgabe, die Österreich essenziell von Deutschland unterscheidet – erneuerte und stärkte die historische österreichische Identität.
Die österreichische Nation ist daher nach meiner Überzeugung eine historisch eigenständige und nicht eine zweite „deutsche Nation“, geschweige denn ist Österreich ein „zweiter deutscher Staat“.
Die österreichische Kultur ist schon sehr früh eine von der deutschen Kultur eigenständige gewesen. Die Tatsache, dass etwa die österreichische Literatur nicht als deutsche Literatur bezeichnet werden kann, liegt nicht nur in der Eigenständigkeit des österreichischen Deutsch, sondern auch in der inhaltlichen und sprachlichen Unterschiedlichkeit zur deutschen Literatur.
Inzwischen ist die eigenständige österreichische Nation eine Selbstverständlichkeit und Normalität geworden. Barbara Coudenhove-Kalergi erinnert sich, dass Bruno Kreisky, einmal nach der österreichischen Nation gefragt, pragmatisch sinngemäß antwortete: Wenn es eine österreichische Nationalbank gebe, eine österreichische Nationalbibliothek und eine österreichische Fußball-Nationalmannschaft, dann müsse es wohl auch eine österreichische Nation geben. Heute geht das stark emotionale Bekenntnis der Bürgerinnen und Bürger zu ihrer österreichischen Nation erfreulicherweise weit über diesen Pragmatismus hinaus.
Kbr. Univ.-Prof. Dr. Franz Schausberger (AGS, Rp, R-J) ist ehemaliger Landeshauptmann von Salzburg, Vorsitzender des Instituts der Regionen Europas (IRE), Präsident des Forschungsinstituts für politisch-historische Studien in Salzburg, Sonderberater der Europäischen Kommission für die Erweiterungsverhandlungen und Europäische Nachbarschaftspolitik und Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats des Hauses der Geschichte Österreich.