Im Gedenkjahr 2018 erinnern wir uns neben vielen anderen Ereignissen vor allem daran, was vor hundert (1918) und vor achtzig Jahren (1938) geschehen ist. Beide Jahre haben tiefe Spuren in unserer jüngeren Geschichte hinterlassen, die auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts wirkmächtig geblieben sind.

Vor hundert Jahren brach die Habsburger-Monarchie auseinander. Damit endete auch die kaiserliche Epoche Europas, die am Weihnachtstag des Jahres 800 mit der Kaiserkrönung Karls des Großen begonnen hatte. Aber welche Beinamen trugen diese Kaiser bzw. Herrscher und welchen Namen hatte das „Reich“, das sie regierten? Die seit der karolingischen Zeit üblichen Begriffe Frankenreich bzw. Ostfrankenreich waren bis weit ins 10. Jahrhundert in Verwendung. Im 11. Jahrhundert kam gelegentlich der Name regnum Teutonicum auf. Die wichtigsten Fürsten des Reiches wählten daher im Hochmittelalter primär einen König/rex (Francorum), der erst später – aber zuerst nicht zwangsläufig – zum Kaiser gekrönt wurde.

Die Wiederherstellung des (west-)römischen Kaisertums zuerst mit Karl dem Großen und dann dauerhaft mit Otto dem Großen war ursprünglich eher auf die Person und nicht so sehr auf dessen geographisch definiertes Reich bezogen. Doch ließ sich in der Folge ein Rückgriff auf das alte Römische Reich nicht vermeiden. So findet sich in einer Urkunde von Kaiser Otto II. aus dem Jahr 982 bereits die Bezeichnung Romanorum imperator, Kaiser der Römer. Gegen 1100 entstand der Titel rex Romanorum, König der Römer bzw. römischer König, für den von den (Kur-)Fürsten gewählten König. Mit diesem Titel wurde auch der Anspruch des gewählten Königs auf die Kaiserkrönung dokumentiert. Spätestens ab Kaiser Ferdinand I. – der Betreffende nahm nun automatisch im Augenblick des Regierungsantritts bzw. der Königswahl den Titel Kaiser an – wurde der Titel rex Romanorum für bereits zu Lebzeiten eines Kaisers als Nachfolger gewählte und gekrönte Könige verwendet. Den Titel „deutscher König“ gab es nicht, und der Titel „deutscher Kaiser“ war erst gegen Ende des Heiligen Römischen Reiches umgangssprachlich in Gebrauch. Die Begriffe römisch-deutscher König bzw. Kaiser haben sich seit einiger Zeit in historischen Darstellungen der Einfachheit halber für den Leser durchgesetzt.

Die ursprüngliche sakrale, ja sogar sakramentale Ausstrahlung des Kaisertums verblasste zur Zeit der Salier im Zuge der Auseinandersetzungen zwischen Papst und Kaiser zunehmend, sodass unter Kaiser Friedrich I. Barbarossa der Begriff sacrum imperium quasi als Ersatz eingeführt wurde. Aus dem Jahr 1254 ist erstmals der Begriff Sacrum Romanum Imperium, Heiliges Römisches Reich, belegt, der dann ab Kaiser Karl IV. regelmäßig verwendet wurde. Mitte des 15. Jahrhunderts tauchte dann der Zusatzbegriff nationis Germanicae, deutscher Nation, auf. Ab dem 17. Jahrhundert ist gelegentlich vom Deutschen Reich die Rede. Der Begriff Deutschland wird erst im 19. Jahrhundert richtig gebräuchlich (siehe z. B. das „Deutschlandlied“).

Historisch-retrospektiv wird aber gemeinhin als Heiliges Römisches Reich jenes staatliche Gebilde bezeichnet, das mit der Kaiserkrönung Karls des Großen seinen Anfang nahm und das sich mit der geographischen Herausbildung des Ostfrankenreichs ab ca. 900 fortsetzte. Als durchaus machtvolles Reich hatte es eigentlich erst mit Kaiser Otto I. richtig Bestand. Ab dem 13. Jahrhundert begann der Prozess der Zurückdrängung der Königs- bzw. Kaisergewalt im Reich, das spätestens ab 1648 zu einem eigenen, souveränen Handeln kaum mehr fähig war und im Zuge des Umbruchs in der Napoleonischen Zeit im Jahr 1806 aufgelöst wurde.

Gab es zu Zeiten dieses Alten Reiches ein deutsches Nationalgefühl? Sicherlich nicht dergestalt, wie wir es uns heute vorstellen. Am Anfang stand die gemeinsame Sprache, die erst im 16. Jahrhundert – nicht zuletzt durch die Bibel-Übersetzung Martin Luthers und deren Verbreitung durch den gerade erfundenen Buchdruck – als Neuhochdeutsch Allgemeingut wurde.

Das „Heilige Römische Reich“ war jedoch kein Nationalstaat wie Frankreich, Schweden, Spanien usw. Von Anbeginn gab es eine übernationale Komponente. Diese resultierte zum einen aus der geographischen Lage in Mitteleuropa, wo es durch „Ausfransungen“ in alle Himmelsrichtungen keine, durch die Sprache klaren Grenzen gab. Man denke etwa an „Reichsitalien“, an die volatile Grenze im Westen gegenüber Frankreich sowie an das Drängen nach Osten bzw. Südosten. Hinzu kam noch die römische Kaiserwürde, die in ihrer Sakralität die Königswürden der anderen Länder überstrahlte, ohne jedoch eine Oberhoheit daraus zu beanspruchen.

Anders als die übrigen Länder des europäischen Mächtekonzerts im Mittelalter und in der frühen Neuzeit hatte dieses „Reich“ seine „nationale Hausaufgabe“ nicht erledigt. Dann gab bzw. gibt es noch ein weiteres Spezifikum: Dieses „Reich“ fußte auf den sog. „älteren Stammesherzogtümern“ (Franken, Alemannien, Sachsen, Bayern), die zwar in der Karolingerzeit unterdrückt wurden, jedoch um 900 wieder eine Renaissance erlebten („jüngere Stammesherzogtümer“). Hier hatte der für den deutschen Sprachraum typische Föderalismus seinen Ursprung, der in seiner Art für Europa einzigartig ist. In der staufischen Epoche (12. Jahrhundert) kam es zu einer Aufsplitterung dieser Herzogsmacht und zur Entstehung von zusätzlichen Territorialherrschaften.

In dieser Phase ist auch der Beginn einer österreichischen Eigenständigkeit anzusetzen, die man aber im historischen Rückblick nicht überbewerten bzw. überhöhen sollte. Diese Zeit war vom staufisch-welfischen Gegensatz geprägt. Im Zuge dessen wurde 1139 den Welfen das Herzogtum Bayern aberkannt, und der Markgraf von Österreich, der Babenberger Leopold IV., wurde vom Staufer-König Konrad III. zum Herzog von Bayern ernannt, Als Leopold IV., starb, folgte ihm 1143 dessen Bruder Heinrich II. Jasomirgott nach. Deren Ernennung zu Herzögen von Bayern war aus zwei Gründen logisch. Zum einen war die Markgrafschaft Österreich ein Teil Bayerns, zum anderen waren sie Halbbrüder von Konrad III.
Doch der Nachfolger Konrads III., Kaiser Friedrich I. Barbarossa, löste den staufisch-welfischen Konflikt. 1156 bekamen die Welfen Bayern zurück, und Heinrich II. Jasomirgott wurde entsprechend abgefunden: Mit dem Privilegium minus wurde die bisherige Markgrafschaft Österreich zu einem eigenen Herzogtum erhoben und von Bayern losgelöst. Damit verbunden war auch eine Reihe von Privilegien, die es so bisher für ein Territorium im Reich noch nie gegeben hatte. Damit war ein wesentlicher Schritt vom „jüngeren Stammesherzogtum“ hin zum Ausbau der territorialen Landesherrschaft im Reich getan worden.

Die Lösung des staufisch-welfischen Konflikts war aber offen, es hätte nämlich auch anders kommen können. Die Babenberger hätten Herzöge von Bayern bleiben können, und die Markgrafschaft Österreich hätte damit keine Sonderstellung erhalten. Die Geschichte wäre dann für Österreich wohl anders verlaufen.

Doch mit 1156 begann die Möglichkeit eines österreichischen Sonderwegs innerhalb des Reiches. Er wurde dann ab 1278 durch die Habsburger und deren Heiratspolitik verstärkt, was den Weg zu einer kontinentalen Großmacht ebnete. Und nun begann der österreichisch-habsburgische Zwiespalt in der deutschen Geschichte. Zum einen war das Haus Habsburg ab 1438 bis zum Ende des Reiches 1806 (mit der Ausnahme Karl VII.) Träger der römisch-deutschen Kaiserkrone, zum anderen besaß es außerhalb dieses Reiches erhebliche Territorien. Durch die von Kaiser Karl VI. 1713 erlassene Pragmatische Sanktion wurde innerhalb des Reiches ein „Staat im Staate“ geschaffen, dessen Gebiet sich auch außerhalb des Reiches fortsetzte. Spätestens ab diesem Zeitpunkt trat die Funktion des Reichsoberhauptes bei den habsburgischen Kaisern in den Hintergrund.

In der napoleonischen Umbruchzeit ging nicht nur das alte Reich unter, es kam durch den französischen Einfluss und die Freiheitskriege bei den Deutschen auch die nationale Frage hoch. Ihre staatliche Einheit wurde zu einem Desiderat, nicht zuletzt auch der studentischen Jugend, die sich in den frühen Burschenschaften organisierte (Wartburgfest). Gleichzeitig kam es zu einem Schwenk der habsburgisch-österreichischen Politik: Sie verzichtete auf die deutschen Territorien außerhalb der heutigen Grenzen Österreichs wie etwa Vorderösterreich, das ungefähr ein Drittel des heutigen Baden-Württembergs ausmachte, und setzte den Schwerpunkt auf Oberitalien.

Im Nachhinein kann man das als eine Fehlentscheidung interpretieren. Denn nun bekam in der „deutschen Frage“ Preußen die Oberhand, das spätestens seit Mitte des 18. Jahrhunderts der Konkurrent Österreichs war. Die „deutsche Frage“ wurde 1866 ohne Österreich, d.h. in kleindeutschem Sinne, gelöst. Die Deutschen in der Habsburger-Monarchie fühlten sich dadurch abgehängt und „unerlöst“, und damit begann eine deutschnationale Komponente in Österreich. Dabei darf man aber nicht vergessen: Die deutschsprachige Bevölkerung verstand sich uneingeschränkt weiterhin als Deutsche, und von Kaiser Franz Joseph ist der Spruch überliefert: „Ich bin ein deutscher Fürst.“

Als 1918 die Habsburger-Monarchie zugrunde ging, wollten im Sinne des Selbstbestimmungsrechtes fast alle in Österreich einen Anschluss an das Deutsche Reich, doch die Siegermächte verhinderten das. Diese sog. „demokratische Anschlußbewegung“ war zum einem vom Trauma des Zusammenbruchs des Habsburger-Reiches sowie vom mangelnden Glauben an die Lebensfähigkeit von Rest-Österreich geprägt, zum anderen wurde dadurch manifest, dass die Idee einer Donaumonarchie-Identität in Abgrenzung zu einem deutschen Nationalstaat doch auf eine kleine Elite beschränkt blieb und bei den Bürgern („Untertanen“) nicht angekommen war.

Die politische Realität im Europa der zwanziger Jahre ließ österreichische Anschluss-Träume bald als undurchführbar in den Hintergrund treten. Und in diesem Zusammenhang entstanden als Neubesinnung Überlegungen zu einer eigenen österreichischen Identität. Nach dem bisherigen Befund dürfte ein Artikel (1926) des Chorherren des Stiftes St. Florian, später Professor für Kirchenrecht an der Katholisch-Theologischen Fakultät Wien, Johannes Hollnsteiner (ehemals Nc), mit dem Titel „Österreichs kulturpolitische Sendung“ die erste seriöse Formulierung dieses „österreichischen Gedankens“ gewesen sein. Hier ist bereits sehr stark von Österreichs deutscher Sendung, nicht zuletzt in Zentral- und Südosteuropa, und von Österreich als dem besseren deutschen Staat die Rede. Parallel dazu ist bei einigen Schriftstellern dieser Zeit die Suche nach der österreichischen Eigenart festzustellen, stellvertretend sei Anton Wildgans mit seiner „Rede über Österreich“ (1930) genannt. In diesem Zusammenhang ist auch die „Österreichische Aktion“ zu nennen, der u. a. die Angehörigen der Wiener CV-Verbindung Nibelungia Ernst Karl Winter, Hans Karl Zeßner-Spitzenberg und August Maria Knoll angehörten, die bereits von einer eigenen österreichischen Nation ausgingen.

Eine der wichtigsten Ideologien des „Ständestaates“ ab 1934 wurde nun die Betonung dieses österreichischen Gedankens bzw. dieser österreichischen Idee bzw. Sendung. Diese Forcierung eines spezifisch österreichischen Gedankens hatte primär die Aufgabe, die Eigenstaatlichkeit und damit das politische System des „Ständestaates“ gegenüber dem nationalsozialistischen Deutschland stabilisieren zu helfen, aber er konnte und wollte mit Sicherheit nicht damals schon ein österreichisches Nationalbewusstsein erwecken, wie man es nach 1945 zunehmend versteht. Denn nach wie vor sah man sich weiterhin als Angehörige der deutschen Nation. Hingegen ist es aber Tatsache, dass durch diese Betonung des Österreichischen auf jeden Fall der Grundstein für ein geändertes Verhalten der Österreicher zu sich selbst (Österreichische Nation) sowie zur Eigenstaatlichkeit (Verschwinden der Anschlussideologie) gelegt wurde. Durch die aus politischen Gründen notgedrungene Ablehnung des Anschlusses an das Deutsche Reich durch den „Ständestaat“ hat er dazu beigetragen, dass sich damals Ansätze eines neuen österreichischen Staatsbewusstseins bilden konnten.
Dieses stilisierte Österreichbewusstsein blieb nicht ohne Auswirkungen auf den CV. Neben der selbstverständlichen Loyalität gegenüber dem „Ständestaat“ und seinen Repräsentanten, insbesondere aus dem CV, wurde es in Weiterführung des Prinzips Vaterland (patria) zu einer Grundideologie des ÖCV, die dann besonders nach 1945 zu wirken begann. Der CVer, vor 1914 mit dem deutschnational-schlagenden Verbindungswesen in Konfrontation geraten, was sich dann nach 1918 mit dem Gegensatz zum Nationalsozialismus zuspitzte, wurde somit zum „kompromißlosen Österreicher“ (Richard Schmitz). Das wurde dann nach 1945 zu einer Grundkonstante im ÖCV.

Die politische Entwicklung nach 1945 ließ die Frage, ob die Österreicher nun Deutsche oder eine eigene Nation sind, weitgehend in den Hintergrund treten. Dazu hat auch der zunehmende europäische Integrationsprozess beigetragen, in den Österreich voll eingebunden ist. Zwar gab es Versuche deutscher Historiker, wie etwa jenen des in Kiel lehrenden Karl Dietrich Erdmann, mit der Formel ein Volk, zwei Nationen und drei Staaten (BRD, DDR, Österreich) diese „deutsche Frage“ zu lösen, doch stieß diese bei einigen österreichischen Historikern auf heftige Kritik.

In der Tat führt in der historischen Betrachtungsweise eine Überbetonung der österreichischen Eigenart auch nicht weiter, genau so wenig wie das die preußisch-kleindeutsche Sichtweise des 19. Jahrhunderts unter Heinrich von Treitschke tut. So wenig wie diese es tun darf, die historische Identität des heutigen Deutschlands auf Preußen zu reduzieren und das alte Reich mehr oder minder auszublenden, so wenig darf man in Österreich vergessen, dass es Teil der deutschen Geschichte ist, sogar ein entscheidender Teil, wenn man berücksichtigt, dass das „Haus Österreich“ fast 400 Jahre hindurch das „Reichsoberhaupt“ stellte. Historisch falsch ist es in diesem Zusammenhang, die Bewohner des deutschsprachigen Teils der Habsburger-Monarchie nicht als Deutsche zu bezeichnen.

Auch wenn sich die Österreicher zu Beginn des 21. Jahrhunderts in ihrer überwiegenden Mehrheit als eigene Nation definieren, darf man ebenso nicht vergessen, dass die Begriffe „Nation“ bzw. „Volk“ nicht nur einem Bedeutungswandel unterzogen wurden, sondern durch den europäischen Einigungsprozess an Gewicht verloren haben.

In der Tat hat diese Entwicklung zu einer Verkomplizierung des Sprachgebrauchs geführt, in dem man jetzt vom „deutschsprachigen Raum“ redet, wenn man Deutschland, Österreich und die deutschsprachige Schweiz zusammenfassend bezeichnen möchte. Der im Februar 2018 verstorbene Klagenfurter Historiker Helmut Rumpler (Rt-D) hat hier vor allem einen für die historische Betrachtung interessanten Vorschlag eingebracht. Er spricht von einem „deutschen Mitteleuropa“. Und hier sind wir wiederum bei dem Grundsatz, dass die Geographie die einzige Konstante in der Geschichte bzw. Politik ist.

Kbr. Univ.-Doz. Mag. Dr. Gerhard Hartmann (Baj et mult.) ist Kirchenhistoriker und Verlagsgeschäftsführer. Als Autor ist er unter anderem durch sein Werk „Der CV in Österreich: Seine Entstehung, seine Geschichte, seine Bedeutung“ bekannt.