Die Frage nach der österreichischen Nation ruft nostalgische Erinnerungen wach, an Jugend- oder doch beinahe Jugendzeiten. Diese Debatte war in den achtziger Jahren ein letztes Mal aufgeflackert; sie wirkt dreißig Jahre später in gewisser Hinsicht wie ein eingefrorener Posthornton. Dabei wird die prinzipielle Frage vom Zeitgeschehen selbstverständlich nicht berührt.
Die Frage, ob die Österreicher eine Nation bilden, hängt nach wie vor in erster Linie davon ab, wie man den Begriff definiert: Versteht man unter „nation“, wie es dem angelsächsischen Sprachgebrauch entspricht, einen souveränen Staat, dann ist Österreich selbstverständlich eine Nation. Zieht man als Kriterium hingegen die Muttersprache heran, wie das in Mitteleuropa lange üblich war, dann zählt die Mehrzahl der Österreicher wohl immer noch zur deutschen Nation. Wie bei allen Definitionen, wird es überall Grenzfälle geben, die sich nur schwer präzise einordnen lassen: Würde man auf Grund der einen oder anderen Definition z.B. die Monegassen als Nation bezeichnen oder die Sioux?
Manche politischen Gemeinwesen sind stolz auf ihren Sonderstatus: Die Schweizer bezeichnen sich als Eidgenossenschaft, kaum jemals als Nation; auch in den zweifellos sehr patriotischen USA ist wenig davon zu hören. Es geht nicht um die „Lage der Nation“, sondern um „the state of the Union“. Bei vielen beliebt ist die Formel von der „Willensnation“: Eine Nation sei, wer eine Nation sein wolle – die dann freilich den gravierenden Nachteil aufweist, auf einem Zirkelschluß zu beruhen. Wahr bleibt bei alledem zweifellos, was ein vielzitierter amerikanischer Autor (Benedict Arnold) auf die Formel gebracht hat: Nationen seien bloß eingebildete Gemeinschaften – mit dem Nachsatz freilich, der gern unterschlagen wird, „wie alle anderen (Gemeinschaften) auch“.
Der Wille eine Nation zu sein oder nicht, verweist auf eine Komponente, die besser mit dem Gefühl der Identität umschrieben wird, das sich nun freilich mit der Zeit ändern kann. Identität aber kann und wird in der Regel vielschichtig sein: Es besteht keineswegs ein Widerspruch, sich als Europäer zu fühlen, als Angehöriger der deutschen Kulturgemeinschaft, als österreichischer Staatsbürger, als Tiroler, als Innsbrucker oder Bewohner eines bestimmten „Grätzels“, daneben noch als Katholik oder Protestant, als Monarchist oder Republikaner, als Proletarier oder Bürgerlicher usw. Die eine oder andere Ebene dieser Identität kann im Laufe der Zeit besonders betont oder hervorgehoben werden: In der Zwischenkriegszeit wurde jeder mit scheelen Augen angesehen der sich nicht als 150 %-iger Anschlußfreund deklarierte, heute oft jeder, der an dem alleinseligmachenden Wirken der Persönlichkeiten, die augenblicklich in der EU den Ton angeben, so seine Zweifel hegt.
Identität ist ein Langzeitprojekt, aber selbstverständlich doch nicht ganz unabhängig von der Tagespolitik: Der österreichische Patriotismus war für viele lange Zeit ein Vehikel gegen die FPÖ, bis Haider ihnen die Freude daran verdarb, als er „Österreich zuerst“ auf seine Fahnen schrieb. Im letzten Vierteljahrhundert hat sich auf diesem Sektor dann eine kuriose Umkehrung der Fronten vollzogen: In den achtziger Jahren propagierte Erhard Busek – zusammen mit meinem Freund und Studienkollegen Emil Brix – ein Mitteleuropa, das Deutschland – und zwar BRD wie DDR – ausdrücklich ausschloß; der Verfasser hingegen war an der Gründung eines Mitteleuropa-Instituts beteiligt, das eine solche „Ausgrenzung“ Deutschlands partout nicht hinnehmen wollte. Heute sehen es die Protagonisten von damals ganz anders: Ich würde heute der Pflege der Beziehungen zu den Visegrad-Staaten (sprich: dem Busek’schen Mitteleuropa!) viel eher Priorität einräumen, Busek hingegen scheint mit dieser Orientierung dafür nicht mehr ganz so glücklich zu sein. (Nur Emil Brix, inzwischen einer unserer Spitzendiplomaten, steht wohl über derlei Kontroversen … .)
Zur Existenz einer österreichischen Nation gibt es nach wie vor, je nach Definition, mehrere legitime Positionen, die freilich alle Missverständnissen ausgesetzt sind. Vielleicht ergibt sich die Fülle der gewollten und ungewollten Missverständnisse auch daraus, daß nicht bloß der Nationsbegriff ganz unterschiedlich ausgelegt wird, sondern auch unter Österreich vor hundert Jahren etwas ganz anderes verstanden wurde als heute: Unter Österreich verstand man die Länder des Hauses Österreich, die Habsburgermonarchie, seit 1915 offiziell nur mehr die sogenannte westliche Reichshälfte („Cisleithanien“). Im Staatsrat der heutigen Republik Österreich sprach der Vorsitzende 1918 deshalb mit großer Selbstverständlichkeit von Österreich, von dem man sich trennen müsse – denn Österreich, das war eben das alte Österreich, das vom Ortler bis in die Bukowina reichte, von den schwarzen Bergen Montenegros bis nach Tetschen-Bodenbach an der sächsischen Grenze. (Ein boshafter Beobachter schrieb nach dem Zerfall der Monarchie, der Balkan reiche jetzt eben bis Tetschen-Bodenbach.)
Dabei hätte dieser Vorsitzende, nämlich Karl Renner, das alte Österreich gerne erhalten: Den Linken in seiner Partei war er wegen seiner „sozialpatriotischen“ Haltung als „Lueger der Sozialdemokratie“ immer schon verdächtig gewesen. Eine gewisse Gemeinsamkeit der Völker, die bisher die Habsburgermonarchie gebildet hatten, erschien ihm auch weiterhin sinnvoll; erst als die Tschechen den Sudetendeutschen die Autonomie verweigerten, suchte er seine Zuflucht beim Deutschen Reich. Robert Musil schrieb in einem Essay in Anlehnung an die Geschichte von dem Esel, der zwischen zwei Heuhaufen verhungert, von „Buridans Österreichern“, die sich zwischen der Monarchie und dem Anschluß nicht so recht entscheiden konnten. (Musil selbst verwahrte sich als fortschrittlicher Geist übrigens dagegen, „Österreich unter dem Namen Donauföderation als europäisches Naturschutzprojekt für vornehmen Verfall weiter zu hegen“.)
Bloß jenen Rest mit seinen oft willkürlichen Grenzen, der in St. Germain zu Österreich erklärt wurde, auch tatsächlich als Verkörperung Österreichs zu betrachten, fiel niemand ein. Erst mit der Zeit entwickelte sich dann – auf Grund der normativen Kraft des Faktischen – ein gewisses Zusammengehörigkeitsgefühl. Doch der Staat wurde immer noch als Provisorium betrachtet, das früher oder später einem neuen Reich weichen müsste. Ignaz Seipel wollte den Österreichern inzwischen alle Optionen offen halten, Engelbert Dollfuß und Ernst Rüdiger Starhemberg aber sahen nach 1933 für ihre Landsleute in der Konfrontation mit Hitler die Aufgabe, die besseren Deutschen zu verkörpern, die eben (noch) nicht dem Nationalsozialismus anheim gefallen waren, in dem sie die deutsche Form des Bolschewismus sahen. Auch Erzherzog Eugen warnte damals vor einer „antideutschen Politik“, die Österreich als Gegenthese zum Deutschtum betrachte.
Nach 1945 ergab sich dann eine paradoxe Situation: Die Politik Hitlers und die daraus resultierende Katastrophe des Deutschen Reiches hatten die deutsche Orientierung diskreditiert und realpolitisch unmöglich gemacht; die Machtübernahme des Kommunismus und der Eiserne Vorhang aber auch die Verbindungen nach Ost-Mitteleuropa gekappt. Österreich war damit nach beiden Seiten hin isoliert und auf eine neutrale Haltung zwischen den Blöcken festgelegt – und fand bald heraus, daß diese Nischenexistenz eine höchst komfortable war, bis sogar ein Papst ihr mit dem Wort von der „Insel der Seligen“ die höheren Weihen verlieh. „Liebe auf den zweiten Blick“, hat Robert Kriechbaumer deshalb ein einschlägiges Buch betitelt. In diesem Klima fand irgendwann in den sechziger Jahren das Konzept der Österreicher als eigene Nation bei Umfragen erstmals eine Mehrheit, obwohl – oder gerade weil – wie Fritz Fellner, der Vater der Medienleute, Anfang der achtziger Jahre schrieb, Österreich nie so deutsch gewesen sei wie in der Gegenwart. Denn die Alternative war nicht mehr gegeben: Die Verbindungen zu den Altösterreichern im Osten, noch in der Zwischenkriegszeit äußerst lebendig, waren aus dem Alltagsleben verschwunden, mit langwierigen Visa-Ansuchen und realsozialistischer Tristesse verbunden.
Seit dem Fall der Mauer hat sich diese Situation Gottseidank wiederum geändert – und damit auch die Funktion des österreichischen Selbstbehauptungswillens. In der Zwischenkriegszeit klammerten sich die Österreicher an das Deutsche Reich; die Nachfolgestaaten galten dafür – mit Ausnahme Ungarns – als Satrapen Frankreichs. Heute hat die deutsch-französische Achse den Anspruch auf Vormundschaft vergemeinschaftet. Die Vorstellung, daß Österreich – und zwar das neue wie das alte Österreich – nach der Berliner Pfeife (und nach französischer Regie) zu tanzen habe, kommt heute in europäischer Verkleidung daher. Merkels Deutschland ist dabei, sich bei den Altösterreichern nachhaltig unbeliebt zu machen. Vielleicht ist es an der Zeit, daß sich die Österreicher einmal mehr als die besseren Deutschen erweisen, als Fürsprecher Mitteleuropas und zum Nutzen des größeren Europa, das mehr umfasst als bloß die Gründungsmitglieder der EWG?
Univ.-Prof. Dr. Lothar Höbelt ist ein österreichischer Historiker und außerordentlicher Professor für Neuere Geschichte an der Universität Wien.