Österreich ist ein Labyrinth, in dem sich jeder auskennt.
Helmut Qualtinger, 1962
Einen Text über Österreich mit Helmut Qualtinger zu beginnen, ist eine feine Sache. Alle vermuten dahinter ein österreichisches Augenzwinkern. Dass seine Beschreibungen „seines“ Österreichs – man denke nur an „Der Herr Karl“ – oft eher Skandal und Aufruhr als „Wiener Hamur“ waren, ist heute in den Hintergrund gedrängt. In diesem Text soll das Qualtinger-Zitat jedoch ein Zeuge dafür sein, dass die Weisheit obigen Spruchs im gewissen Sinne schon ein Privileg der Zweiten Republik war. Denn, wenn es stimmt, dass unsere Republik ein Labyrinth ist, dann kannten sich bereits damals tatsächlich (fast) alle aus. Hans Weigel beschrieb die Erregung über den Herrn Karl folgendermaßen: „Man hatte einem bestimmten Typus auf die Zehen treten wollen, und eine ganze Nation schrie: ‚Au!‘“ Zu diesem Zeitpunkt war das Wort „Nation“ für Österreich schon selbstverständlich. Wenige Jahre davor jedoch schien dieses Labyrinth – dieses Österreich – vielen noch ein Rätsel und schon gar nicht „Nation“ zu sein.
Die Verwirrung über den Begriff „Österreich“ begann schon in der österreichischen Monarchie, spätestens seit dem Ausgleich mit Ungarn 1867. Hatte sich mit den Reformen Maria Theresias und Josephs II. aus den habsburgischen Ländern schön langsam ein Staat herausgebildet, den man gemeinhin Österreich nannte, war vor allem ab der Etablierung des österreichischen Kaisertums 1804 das gesamte Reich mit allen Volksgruppen, Kulturen und Religionen damit gemeint. Wenn auch Hegemonieansprüche der deutschsprachigen Eliten im Reich zu spüren waren, die den einen als Selbstverständlichkeit und den anderen als Zumutung erschienen, hatte der Begriff „Österreich“ dennoch einen supranationalen Charakter.
Ab 1867 begannen jedoch die Verrenkungen mit dem Österreichbegriff. Um jedenfalls zu verhindern, dass die westliche Reichshälfte als die „österreichische“ bezeichnet wurde, wurden der Beamtenbegriff „Cisleithanien“ und die wenig herzerwärmende Bezeichnung „die im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder“ gewählt. Robert Musil nannte diesen Staatsnamen später einen Namen aus Namen, der nichts bedeutete. Generell beschrieb er 1933 im „Mann ohne Eigenschaften“ die österreichische Verwirrung sehr treffend: „Überhaupt, wie vieles Merkwürdige ließe sich über dieses versunkene Kakanien sagen! […] Es nannte sich schriftlich Österreichisch-Ungarische Monarchie und ließ sich mündlich Österreich rufen; mit einem Namen also, den es mit feierlichem Staatsschwur abgelegt hatte, aber in allen Gefühlsangelegenheiten beibehielt, zum Zeichen, dass Gefühle ebenso wichtig sind wie Staatsrecht […].“ Erst im Ersten Weltkrieg, als dieser – leichtfertig zu großen Teilen selbst vom Zaun gebrochen – nicht die Rettung, sondern der Untergang zu werden drohte, waren die Habsburger und ihre Eliten selbst bereit, die eine Reichshälfte die österreichische zu nennen. Und es ist schon eine gewisse labyrinthische Eigenart, dass das letzte „gemeinsame“ Wappen des Reiches, in dem der geschrumpfte Begriff „Österreich“ gleichsam heraldisch akzeptiert wurde, wenig später die grafische Basis des Republiksadlers werden sollte; mit seinen ständischen Symbolen und schließlich in Schrumpfform mit den deutschen Farben Schwarz-Rot-Gold. Hinzu kommt die Volte, dass eine maßgebliche Person, die ordnende Hand der Republiksgründung, der Sozialdemokrat Karl Renner, bis zum Schluss in einer eigenwilligen internationalistischen austromarxistischen Logik den supranationalen Habsburgerstaat durch Demokratisierung und Reform retten wollte.
In seinem 1916 erschienen Sammelband „Österreichs Erneuerung“ fand er als einzige Basis für seine Rettung der österreichischen Reichshälfte als großen Wirtschaftsraum und übernationales Staatsgebilde die Forderungen nach der Abschaffung der Kronländer und einer großen Verwaltungsreform; was auch aus heutiger republikanischer Sicht einen gewissen labyrinthischen Witz und tatsächlich eine österreichische Kontinuität in sich birgt.
Als das Habsburgerreich und für viele somit „Österreich“ in der Katastrophe des Ersten Weltkrieges unterging, war für eine große Mehrheit – aus verschiedenen Gründen – das Labyrinth Österreich endgültig zum Mirakel, ja zum Fluch geworden. Die deutschsprachigen Abgeordneten des letzten 1911 in der Monarchie gewählten Abgeordnetenhauses des Reichsrates traten in Wien zur Provisorischen Nationalversammlung für Deutschösterreich zusammen. Alle Rettungsversuche, das übernationale Österreich als losen Staatenbund oder zumindest als Wirtschaftsraum zu erhalten, scheiterten. Zu sehr hatten die traumatischen Fronterlebnisse, eine drakonische Militärverwaltung von Wirtschaft und Gesellschaft im Krieg sowie die bittere Versorgungsnot an der so genannten Heimatfront dazu geführt, endgültig das Vertrauen in das Herrscherhaus und die habsburgischen Eliten zu verlieren, egal welche Sprache man sprach. Der verantwortungslose Krieg war die Erosion alles irgendwie noch als gemeinsam und gemeinschaftlich Vorgestellten und Empfundenen.
Am Anfang des neuen Österreich standen somit kein Gründungsmythos oder eine Großtat, sondern eine Katastrophe, eine Enttäuschung und das Gefühl des Übrigbleibens. Karl Renner formulierte es im deutschen sozialdemokratischen „Vorwärts“ mit resthegemonialem Unterton wie folgt: „[…] am Ende haben wir es satt, den unverstandenen Lehrmeister und den ungebetenen Vormund zu spielen. […] Wir bestellen unser eigenes Haus – mögen die andern für sich selber denken und sorgen“.
Die Verwirrung im Bedeutungslabyrinth des Österreichbegriffs war im Oktober 1918 wohl am größten. Für die einen, die im Krieg unvorstellbar gelitten hatten, war es ein habsburgischer Begriff, den es zu verachten galt, der mit Tod und Elend verbunden war. Für die anderen war er ohne das „Gesamtreich“ an sich absurd – was sollte dieser „deutsche“ Rest denn sein? Wiederum für andere war er nur eine bittere Erinnerung an eine nun versunkene gloriose Vergangenheit. Hinzu kam die pragmatisch-strategische Überlegung österreichischer Schlauheit, den Namen zu vermeiden, um nicht mit der Schuld und den Schulden des habsburgischen Österreich in Verbindung gebracht zu werden. Daher geisterten zunächst befremdliche Namen für das neue, von den meisten als fremd erachtete Gebilde durch die Köpfe der Staatsgründer wie „Alpengermanien“, „Deutsches Bergreich“ oder „Donaudeutschland“. Es blieb Jahre später dem großartigen Jura Soyfer überlassen, die Gefühle der Republiksgründung treffend zu beschreiben: „Auftauchte, als die Wasser der Sintflut sich zu verlaufen begannen, ein kleiner Staat mit sechseinhalb Millionen Einwohnern, die ihn ungläubig Österreich nannten, die Republik Deutsch-Österreich.“
Die wenigsten hatten eine genaue Vorstellung, was dieses Österreich sein und wie es funktionieren sollte. Daher schien fast allen der einzige Ausgang aus dem Labyrinth der „Anschluss“ an Deutschland zu sein; egal, ob aus wirtschaftlichen Überlegungen, ob aus vagen Hoffnungen auf das vage „Selbstbestimmungsrecht der Völker“, das US-Präsident Wilson als für den Zeitgeist wohlklingende Parole ausgab, ob aus kulturromantischen Träumen oder aus tobendem völkischen Nationalismus.
Die „Nation“ wurde in den Zeiten der Krise, des Umbruchs und des Verschwindens traditioneller Hierarchien für viele Menschen endgültig zum höchsten Bezugspunkt politischer Orientierung. Der bewusst gesäte Hass und die radikale Feindbildzeichnung der Kriegspropaganda hatten das ihre dazu beigetragen.
Da „Österreich“ zu Beginn der neuen Zeiten vieles, aber sicher kein Nationalbegriff war, bleibt es eine Eigenheit der (deutsch)österreichischen Republiksausrufung, sich in § 1 zu gründen und in § 2 bereits wieder aufzulösen: „Deutsch-Österreich ist ein Bestandteil der deutschen Republik.“
Bereits bei der Suche nach einem Staatswappen für das neue Gemeinwesen schien es allen erforderlich zu sein, heraldisch „die nationale Zugehörigkeit“ klar erkennbar zu machen. Wodurch? Durch die Farben Schwarz-Rot-Gold.
Die hysterischen Massendemonstrationen, als der Vertragsentwurf von Saint Germain das so genannte „Anschlussverbot“ enthielt, und kitschige Postkarten, die die prächtige Frau „Germania“ zeigten, die das ärmliche weinende Mädchen „Austria“ tröstete, scheinen einer massenhaften orientierungslosen Überforderung geschuldet zu sein, die heute schwer verständlich ist. Ebenso eine Eigenheit Österreichs sollte es bleiben, dass es gleichsam durch den Staatsvertrag von Saint Germain zur „Unabhängigkeit“ verpflichtet und ihm der Name „Österreich“ aufgedrängt wurde.
Diesem Bundesstaat der Republik Österreich wollten schließlich nach Inkrafttreten des Staatsvertrages von Saint Germain 1920 wichtige Territorien „entkommen“: Vorarlberg wollte sich der Schweiz anschließen und Tirol, Salzburg sowie die Steiermark der deutschen Republik. Dort wo Volksabstimmungen durchgeführt wurden, waren die Zustimmungsraten zur Lossagung von Österreich enorm.
So blieb die weitverbreitete Bindungslosigkeit zum Kleinstaat Österreich ein zentraler Schatten auf der jungen Republik. Weitere dunkle Schatten blieben die starken Mentalreservationen gegenüber der Staatsform Republik und der parlamentarischen Demokratie, ein schwacher gesellschaftlicher Grundkonsens, die Etablierung von bewaffneten politischen Wehrverbänden, ein tiefverwurzelter politisch instrumentalisierter Antisemitismus und schließlich ein andauerndes Schrumpfen der österreichischen Volkswirtschaft.
Die zwei großen politischen Lager, die Sozialdemokratische Arbeiterpartei und die Christlichsoziale Partei, erhielten durch das Fehlen eines Identifikationsbrennpunktes „Österreich“ besonders dominante Bedeutung für das Leben der Menschen. Ein Fakt, der die an sich schon stark entwickelte politische Polarisierung noch verstärkte. Große Konfliktlinien wie beispielsweise zwischen Arbeitgeber und Arbeiterschaft, Besitz und Besitzlosigkeit, Kirche und Staat, Stadt und Land und überschießendem Modernismus und radikaler Rückwärtsgewandtheit bildeten sich an den Grenzen der zwei Lager ab und erschwerten Dialog und Kompromiss. Das Finden einer gemeinsamen politischen Kultur blieb schwer, ebenso sich die Republik als „Nation“ bzw. als „Gemeinschaft“ vorzustellen.
Der amerikanische Politikwissenschaftler Benedikt Anderson beschrieb „Nationen“ als „vorgestellte“ oder besser „imaginierte“ Gemeinschaften („Imagined Communities“), die sehr wirkmächtig werden können. Dieses Konzept als Beschreibung von Nationen zeichnet sehr gut das Labyrinth Österreich nach. Es wurde keine Idee des „Gemeinsamen“ entwickelt und das Zusammenleben nicht als „Verbund von Gleichen bzw. Ähnlichen“ empfunden. Die souveräne Abgrenzung vom „Deutschsein“ war für eine Mehrheit schwer bis gar nicht denkbar. Dies steigerte sich phasenweise in einen rassistischen Taumel, der z.B. dazu führte, dass der Innenminister der Bürgerblockregierung – Leopold Waber – 1921 deutschsprachigen jüdischen Staatsbürgern der Monarchie aus „rassischen Gründen“ die Staatsbürgerschaft der Republik verwehrte.
Es muss betont werden, dass sich auch jene, die sich später als besonders große Patrioten gerierten, die Funktionäre der austrofaschistischen Diktatur, Österreich ohne „Deutschsein“ nicht recht vorzustellen vermochten. Das Bild, der bessere „deutsche Staat“ zu sein, ist nur eines von mehreren Beispielen. Egal ob christlichsoziale, sozialdemokratische oder dezidiert deutschnationale Interpretation des Deutschseins, die Vorstellung von „Österreich“ blieb ungenau oder fehlte bis zum Untergang der jungen Demokratie 1934 und des jungen Staates 1938 völlig.
Anton Pelinka beschrieb in seinem Buch „Die gescheiterte Republik“ den Zustand der Ersten Republik als „Zwischenösterreich“: „Die Republik war voll von Zukunftsprojekten, voll von hehren, auch quasireligiös bestimmten Glaubenssätzen. Aber keines dieser Projekte war allen Lagern gemeinsam.“
So bleibt es ebenso eine eigentümliche Tatsache, dass die ersten, die vor dem „Anschluss“ an Nazi-Deutschland versuchten der vorgestellten Gemeinschaft „Nation Österreich“ eine Grundorientierung zu geben, Randfiguren des politischen Geschehens waren: zum einen der Legitimist und Katholik Ernst Karl Winter, zum anderen der Staatswissenschaftler und Kommunist Alfred Klahr.
Es bedurfte des Bürgerkrieges, der Diktatur, des Untergangs im und schließlich des Dritten Reichs und der traumatischen Folgen bzw. unermesslichen Verbrechen des Nationalsozialismus, damit der Österreich-Begriff sich klärte und auch seinen breiten Zuspruch in der Vorstellung der Menschen fand. Das neue österreichische Selbstverständnis nach 1945 basierte auf einer Mischung aus Einsicht (in die Notwendigkeit von Kooperation und Dialog) und Verdrängung (Mitverantwortung am Weltkrieg und an den nazistischen Verbrechen).
Als sinnbildlich für diese hier beschriebene labyrinthische Entwicklung des Österreichbegriffs kann die „typisch österreichische“ Gestalt Karl Renner gelten. Er zerbrach sich auf sozialdemokratische Art den habsburgischen Kopf über die Rettung des alten Österreich, definierte federführend den österreichischen Republiksbegriff genauso wie die großdeutschen demokratischen Träume der Jahre 1918/19, er sorgte sich um die österreichische Republik in den gewalttätigen Auseinandersetzungen der Zwischenkriegszeit und wollte Brücken zwischen den Lagern bauen, um schließlich 1938 sein verhängnisvolles „Ja“ zum Anschluss an Nazideutschland zu veröffentlichen. Und zu guter Letzt sollte er, einsichtig in die Notwendigkeit der Wiedergründung der Republik Österreich als Kleinstaat, der pater patriae der Zweiten Republik werden, u.a. deswegen, weil er wahrscheinlich der einzige führende Politiker war, der all diese österreichischen Zusammen-, Um- und Aufbrüche im 20. Jahrhundert federführend begleitete: „Die Kette zersprang, und Österreich stand auf in allen seinen Dörfern und Märkten, Landstädten und Landeshauptstädten und vor allem in seiner Hauptstadt Wien.“
Um sich von der konflikt- und gewaltbeladenen Ersten Republik abzuheben, wurden nach dem Zweiten Weltkrieg ein demokratischer Grundkonsens und eine breite Kooperation der beiden großen politischen Lager – SPÖ und ÖVP – geschlossen. Proporz und Konkordanz bildeten in den staatlichen Institutionen und der politischen Praxis zentrale Säulen und wurden Orientierungshilfen im österreichischen Labyrinth. Bei allen Untiefen eine große Erfolgsgeschichte.
Heuer, zum 100. Geburtstag der österreichischen Republik, sollte nicht nur dem Geschehenen gedacht werden, sondern vor allem auch eine Vorstellung entwickelt werden, wohin die Reise der Republik in Zukunft gehen soll – wie das Labyrinth für die Anforderungen des 21. Jahrhunderts zu öffnen ist. Es könnte nämlich sein, dass sich viele Menschen zwar in Österreich auskennen, aber sich nicht mehr in den Labyrinthen der globalisierten Welt zurecht finden und daher wieder die „Nation“ höchster Bezugspunkt politischer Orientierung werden könnte. Gravitätische homogenisierende Nationsbegriffe (mit mörderischem Potenzial) sind sicher nicht die Antworten, die heute zur zukunftsfähigen Problemlösungskompetenz zählen werden.
Dr. Michael Rosecker ist stellvertretender Direktor des Karl-Renner-Institutes und wissenschaftlicher Leiter des Karl-Renner-Museums.