Wie hat es Gott geschafft, aus mir einen Franziskanerbruder zu machen? Diese Frage stelle ich mir manchmal. Vor zehn Jahren hätte ich nie gedacht, mal in einem Habit durch die Straßen zu gehen. Oft muss ich schmunzeln, denn so etwas hatte ich in meiner Lebensplanung nicht vorgesehen. Ich gehe nun langsam gegen vierzig zu. Das Schöne am Älterwerden ist, dass man immer mehr Lebensvergangenheit hat, auf die man zurückschauen kann. Es ist spannend, Gottes führende Hand in der eigenen Biographie zu erahnen.

Ich bin, als ältester Sohn, in eine Bauernfamilie auf dem Luzerner Hinterland hineingeboren. Ich durfte eine sehr schöne Kindheit erleben. Was die Religion anbelangt, so bin ich den normalen Weg gegangen, wie die meisten in meinem Alter: Taufe, Erstkommunion, Firmung und dann Tschüss. Ich war immer gläubig, aber das war meine persönliche Sache und hatte im Alltag keine große Rolle gespielt.

Nach der Matura, wollte ich endlich mein Heimatdorf verlassen, um die Welt zu entdecken. Ich studierte Politikwissenschaften in Neuchâtel und lebte zum ersten Mal in einem anderen Sprachgebiet. Ich lernte viele Leute kennen, ging verschiedenen Studentenjobs nach und hatte meine lang ersehnte eigene Wohnung. Nachdem ich nach dem Studium genug Geld verdient hatte, erfüllte ich mir den Traum, den Osten Europas zu erkunden. Schon immer hatte mich diese Region, ihre Kultur und Geschichte fasziniert. Ich besuchte während mehrerer Monate Sprachkurse in der Ukraine, in Weißrussland und Russland. Bald war mir klar, dass ich noch länger in diesen Ländern bleiben möchte. Ich fand Arbeit in Moskau, lebte und arbeitete nun also in Russland. Mein Traum, dieses Land zu entdecken, hat sich in einem Maße erfüllt, wie ich es mir selber nicht hätte ausdenken können: Ich lernte viele Menschen kennen, aus denen sich wunderbare Freundschaften entwickelten, ich hatte eine Arbeit, dank der ich viel herumreisen konnte, ich lebte in der pulsierenden Metropole Moskau, wo immer etwas los ist und … ich entdeckte einen neuen, lebendigen Zugang zum Glauben, der meinem Leben eine ganz neue Ausrichtung gab.

In Russland ist der Glaube trotz siebzig Jahren Kommunismus nicht erloschen, sondern im Gegenteil, lebendiger als bei uns. Junge Leute sind an Existenz- und Glaubensfragen interessiert und suchen Antworten in allen möglichen Richtungen. Auch bei mir wurden diese Fragen immer brennender. Den dreißigsten Geburtstag feierte ich ausgiebig mit Freunden in Moskau, doch ich merkte, wie der Reiz des Neuen langsam verflog und stellte mir immer mehr die existenziellen Fragen des „Wohin?“, „Wozu?“, „Weshalb?“. Irgendwie erfüllte mich der Alltag nicht mehr und ich spürte eine innere Unruhe, eine Sehnsucht nach dem Mehr. Auf dieser Suche gab es viele wichtige Begegnungen mit Menschen, gute Bücher, die mir in die Hände gekommen sind und dann immer wieder diese Momente, in denen es mich in die orthodoxen Kirchen gezogen hat. Ich war fasziniert und tief im Innern angerührt, von dem was sich da abspielte: die Liturgie, die Ikonen, der Gesang, der Weihrauch. Verstandesmäßig konnte ich das nicht erfassen, aber es hat mich in Beschlag genommen. Gott schenkte mir an diesen Orten wunderbare Momente.

Später entdeckte ich die katholische Kirche in Moskau. Es war eindrücklich zu sehen, wie sich am Sonntag Menschen aus der ganzen Welt an einem Ort versammeln, um Messe zu feiern. Es eröffnete sich mir so ein neuer Zugang zur katholischen Kirche und ich konnte mich selber dazugehörig fühlen. Der Glaube wurde für mich immer wichtiger, ich besuchte regelmäßig den Gottesdienst, las in der Bibel, nahm an Glaubenstreffen teil und lernte wiederum neue Leute kennen. Wichtig war für mich auch die Erkenntnis, dass Glaube und Vernunft nicht zwei Dinge sind, die sich gegenseitig ausschließen. Gläubig zu sein heißt nicht, sich in eine abgeschottete Welt zu flüchten, sondern sich ganz konkret mit dem Leben, seinen Fragen und Herausforderungen auseinanderzusetzen, aber unter Einbezug einer Dimension, welche die materielle, rein irdische Ebene übersteigt. Spannend waren da Begegnungen mit Menschen, die ganz in der Welt standen, aber auch einen tiefen Glauben hatten.

Als es in der Firma, in der ich zu diesem Zeitpunkt arbeitete, zu Umstrukturierungen kam, beschloss ich eine Auszeit zu nehmen, den Sommer als Kuhhirt auf einer Alp zu verbringen und mich dann zu entscheiden, wie es weitergehen sollte. Kurz vorher verbrachte ich die Ostertage im Benediktinerkloster in Disentis. Ganz unerwartet bin ich dort auf eine Lebensform gestoßen, die ich nicht kannte, die mich aber sofort faszinierte. Es war einerseits das Beten der Psalmen und anderseits die persönliche Ganz-Hingabe an Gott. Der Gedanke, dass dies vielleicht mein Weg ist, ließ mich nicht mehr los. Ich kam zum Entschluss, dass ich es am besten einfach ausprobiere. Ich sagte mir: „Wenn du Glück hast, merkst du nach zwei Wochen, dass es nichts ist. Wenn du Pech hast, nun, dann scheint es dein Weg zu sein.“ In welcher Gemeinschaft aber sollte ich das ausprobieren? Ich kannte bereits die Benediktiner, lernte dann die Jesuiten kennen und irgendwann drückte mir jemand ein Buch über Franziskus in die Hände. Die Biographie dieses Menschen, den ich vorher nur vom Namen her kannte, faszinierte mich sehr. Ich lebte schließlich eine Woche bei Kapuzinern und später bei Franziskanern und merkte, dass es diese Art von Ordensleben ist, die mir am meisten entspricht, nämlich: Brüderlichkeit, Zeit des Gebets und Zeit für die Menschen und die Einfachheit.

Nun begann also die Zeit der Kandidatur, des Postulats und des Noviziats bei den Franziskanern. Es war eine Zeit des Wachsens im Glauben, des Entdeckens eines großen Schatzes an Lebenserfahrungen, der mir bis dahin unbekannt war. Auch eine Zeit, in der ich mich selber besser kennenlernte, meine Stärken und Schwächen, insbesondere im Hineinwachsen in die Bruderschaft, was auch immer mit einem schmerzhaften und mühsamen „Abgeschliffen werden“ verbunden ist. Was mich immer wieder faszinierte, waren die unterschiedlichsten Menschen, die ich kennenlernen durfte. Ganz besonders beeindruckten mich solche, die, von einem lebendigen Glauben erfüllt, eine tiefe Freude und Frieden ausstrahlten.

Bis zum dreißigsten Lebensjahr war es vor allem die Sehnsucht, die Welt zu entdecken, die mich antrieb. Nachdem ich Gott und sein lebendiges Wirken in meinem Leben immer intensiver erfahren durfte, ist es die Sehnsucht, der immer größeren Verbundenheit mit IHM, die mich zieht. Ich habe immer an Gott geglaubt, aber erst diese persönliche Erfahrung seiner Gegenwart machte IHN zum Mittelpunkt meines Lebens. Mit IHM, der mich geschaffen hat, weil er mich liebt, der mich immer schon durch mein ganzes Leben begleitete, will ich unterwegs sein. IHN, der die Erfüllung meiner tiefsten Sehnsucht nach Liebe, Gerechtigkeit und Wahrheit ist, will ich immer besser kennenlernen. Mit IHM der in Jesus Mensch geworden ist und damit alle Dimensionen sprengte, um uns ins vollendete Leben zu führen, will ich ganz verbunden sein. So durfte ich im September die feierliche Profess ablegen, also das Versprechen, Gott mein ganzes Leben zu schenken in der Gemeinschaft der „Minderen Brüder“.

Seit Oktober bin ich in einer Gemeinschaft von vier Brüdern in Zürich. Ich begegne hier wiederum vielen, ganz unterschiedlichen Menschen. Ich hoffe, dass mein Zeugnis auch anderen Menschen helfen kann, immer mehr die Spuren Gottes in ihrem Leben zu entdecken, damit sie zu einer immer persönlicheren Beziehung zu ihrem Schöpfer finden.

Matthias Müller stammt aus Schötz/Luzern, studierte Politikwissenschaften in Neuenburg und ist Laienbruder im Franziskanerorden. Er legte 2017 seine feierliche Profess ab und wirkt derzeit im Franziskanerconvent Zürich.