Die Vielfalt unter den studentischen Korporationen ist bekanntlich so gross, dass das Wort „Studentenverbindung“ – obwohl beim linken politischen Spektrum undifferenziert allergische Anfälle auslösend – zunächst einmal gar nichts aussagt. Um so spannender ist der Blick über den Tellerrand der eigenen Verbindung hinaus. Und so will ich auf die Bitte der sehr geschätzten Redaktion des „Monokel“ hin gerne den Schweizerischen Zofingerverein näher vorstellen. Aktiv war ich in den Sektionen Luzern (Gymnasium) und Basel (Universität), als Altzofinger (alter Herr) bin ich Mitglied in den Sektionen Thurgau, Luzern und Basel-Stadt.
Geschichtlicher Abriss
1813, nach dem Ende der napoleonischen Herrschaft über die Eidgenossenschaft, kehrte in vielen Orten die Aristokratie an die Macht zurück. Die französische Revolution aber hatte ihre Spuren hinterlassen: Das Nationalbewusstsein war erwacht und die Ideale von Freiheit und Gleichheit fanden gerade unter den Studenten grossen Anklang. Das waren in der bäuerlich geprägten Schweiz nicht sehr viele – Es gab nur gerade eine Universität, die 1460 gegründete alma mater Basiliensis. In wenigen anderen Städten bestanden Gymnasien und Lyzeen, wo vor allem Theologen beider Konfessionen sowie Ärzte und Juristen auf ihr akademisches Studium vorbereitet wurden.
In diesem Umfeld trafen sich 1819 Studenten aus den aristokratisch regierten Orten (Kantonen) Bern und Zürich auf halbem Weg, um neue Ideen zu diskutieren. Das Städtchen Zofingen, im freisinnig regierten Kanton Aargau gelegen, war ihr Versammlungsort. Die Vorstellungen, die dort öffentlich geäussert wurden, waren für die damalige Zeit revolutionär: Man begeisterte sich für freiheitliche Ideen und einen starken eidgenössischen Bundesstaat, wandte sich gegen den politischen Eigensinn der Orte und gegen die autoritäre Herrschaft der Patrizierfamilien.
Als man sich 1820 zum zweiten Mal in Zofingen versammelte, nahmen auch Studenten aus Luzern und Lausanne teil. Damit hatte der „Zofingerverein schweizerischer Studierender“, wie man die neu gegründete Gesellschaft nannte, zwei wichtige Eigenschaften erreicht: Reformierte und Katholiken, deutsch- und französischsprachige junge Schweizer arbeiteten in einer Organisation zusammen. Die grosse politische Vision war die Errichtung eines Schweizerischen Bundesstaates.
Der Zofingerverein erregte im In- und Ausland grosses Aufsehen. Seine gesamtschweizerische und überkonfessionelle Zusammensetzung war etwas Neues und wurde von konservativen Kreisen als bedrohlich empfunden. So erlebte der junge Verein bewegte Jahre: Er wuchs zunächst rasch und konnte zahlreiche neue Sektionen gründen. Vorab in aristokratisch regierten Kantonen wurden Zofingersektionen auch unterdrückt und verboten. Bereits 1832 spaltete sich ein politisch radikaler Flügel ab, dem der Zofingerverein zu lau war, und gründete die Schweizer Studentenverbindung Helvetia, die heute noch mit fünf Sektionen besteht. Immer wieder erfolgten Spaltungen und Wiedervereinigungen, was den heiligen, schwärmerischen Ernst widerspiegelt, mit welchem gesellschaftliche Bewegungen in jener Zeit des Aufbruchs ihre Ziele verfolgten.
Interessant sind die Parallelen zur Urburschenschaft in Deutschland, die 1817 mit ihrem Wartburgfest deutsche Geschichte schrieb. Während aber die deutsche Burschenschaft sofort massivster Repression ausgesetzt war, erfuhr der Zofingerverein aus liberal-radikal gesinnten Kreisen starke Unterstützung und rasche Verbreitung. Von den gemeinsamen Wurzeln zeugt noch heute der wichtigste Farbencantus des Zofingervereins, „Nous l’avions bâtie la blanche Maison“, der eine freie Übersetzung des burschenschaftlichen „Wir hatten gebauet ein stattliches Haus“ ist und auf keiner Zofingerveranstaltung fehlen darf; bei den französischsprachigen wie bei den Deutschschweizer Sektionen.
Mit der Gründung des föderalistischen, demokratischen Schweizerischen Bundesstaates im Jahre 1848, dem der Sonderbundskrieg zwischen freiheilich-reformierten und katholisch-konservativen Orten vorausgegangen war, konnte der Zofingerverein sein politisches Hauptziel erreichen. Zahlreiche Zofinger sassen im ersten Parlament des neuen Staatsgebildes. Auch im Bundesrat, der eidgenössischen Regierung, waren stets Zofinger vertreten. So wandelte sich der Zofingerverein von der revolutionären zur staatstragenden studentischen Verbindung, die er heute noch ist. Er brachte neben zahlreichen Bundes-, National- und Ständeräten auch weitere hervorragende Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens hervor. Die vielleicht bekanntesten sind: Albert Anker, Karl Barth, Jakob Burckhardt, Alfred Escher, Jeremias Gotthelf, Henri Guisan, Carl Gustav Jung, Conrad Ferdinand Meyer, Charles Ferdinand Ramuz, Jean Ziegler und Rolf M. Zinkernagel.
Couleurstudentisches Brauchtum nach deutschem Vorbild rezipierte der Zofingerverein erst ab den 1840er Jahren, unter dem Einfluss von Zofingern, die im Ausland studierten, und zahlreicher Deutscher, die sich vorab an der 1855 gegründeten ETH Zürich immatrikulierten. Gegenüber der Mensur war der Verein kritisch eingestellt. Gefochten wurde in Zürich, Bern und Basel dennoch bis in die 1890er Jahre, da man sich dem studentischen Zeitgeist und ihrem Ehrenbegriff nicht entziehen konnte.
War der Zofingerverein ursprünglich ein freiheitlich-liberales Bollwerk, öffnete sich das politische Spektrum ab etwa 1880 nach und nach für sämtliche demokratischen Parteiströmungen. Insbesondere zu Beginn des 20. Jahrhunderts besass der Zofingerverein einen sehr progressiven Flügel, der an die revolutionäre Gründergeneration anknüpfen wollte und grosse Sympathien für sozialistische und pazifistische Ideen hegte.
Heutige Positionierung
Der Zofingerverein, latinisiert „Zofingia“ oder auch „Tobinia“, ist farbentragend (rot-weiss-rot mit goldener Perkussion, weisse Mütze in unterschiedlichen Formaten) und nichtschlagend. Er umfasst rund 300 Aktive sowie 2.500 im Schweizerischen Altzofingerverein organisierte Altzofinger. Der Aktivenverein gliedert sich gegenwärtig in elf Sektionen, davon neun an Universitäten und Hochschulen sowie zwei an Gymnasien. Es werden alle Landessprachen gleichberechtigt gepflegt. Jede Sektion wählt ihre Chargen, Kommission genannt, während der Gesamtverein durch den Centralausschuss unter Leitung des Centralpräsidenten geführt wird, der jährlich alternierend durch eine der universitären Sektionen gestellt wird.
Der Zweckartikel der Centralstatuten lautet: „Die Zofingia ist eine schweizerische Studentenvereinigung. Neben der Pflege der Freundschaft hat sie zum Zweck, Persönlichkeiten heranzubilden, die imstande sind, politische Verantwortung zu tragen. Die Zofingia ist eine Lebensverbindung. Sie setzt sich mit aktuellen Problemen der schweizerischen Politik und Wirtschaft auseinander und beschäftigt sich mit Fragen des universitären, kulturellen und sozialen Lebens. Sie orientiert sich an der Idee eines föderalistisch aufgebauten, demokratischen Rechtstaats und setzt sich für die Wahrung der persönlichen Freiheit ein. Die Zofingia ist parteipolitisch neutral.“
Aus den Ursprüngen hat sich die besondere Organisation ergeben, dass die aktiven Zofinger eine einzige, gesamtschweizerische Verbindung mit einheitlichem Namen sowie einheitlichen Farben, Devisen und Grundsätzen bilden. Jeder Zofinger hat das Recht, jeder anderen Sektion beizutreten; bis in die 1980er Jahre gab es eine Übertrittspflicht, wenn man den Studienort wechselte.
Der Idee des Föderalismus folgend hat jede Sektion dennoch ein ausgeprägtes Eigenleben. So unterscheiden einige französischsprachige Sektionen nicht zwischen Burschen und Füchsen, manche Sektionen handhaben das Farbentragen und den Comment sehr locker und kennen auch keine Biernamen. Andere Sektionen pflegen soliden Comment und auch den Landesvater; zum Vollwichs hingegen wird nie ein Schläger getragen. Der Gesang wird in allen Sektionen des Zofingervereins bis heute sehr gepflegt, ebenso die politische Debatte. Das Verbindungsleben ist mit ein bis zwei Anlässen pro Woche nicht besonders intensiv.
Währenddessen bilden die Altzofinger einen rechtlich selbständigen Verein mit heute 17 Sektionen, der vom Aktivenverein organisatorisch losgelöst ist und keinerlei formelle Einflussmöglichkeiten auf diesen hat. Wo Sektionen des Altzofingervereins und der Aktiven am gleichen Ort bestehen, ist die Unterstützung der Aktiven jedoch selbstverständlich. Die Ehrenmitgliedschaft ist in der Zofingia grundsätzlich unbekannt; wer Mitglied des Altzofingervereins werden möchte, muss aktiv gewesen sein.
Die Zofinger pflegen einen originellen, ziemlich bacchantischen Comment, der für Angehörige anderer studentischer Korporationen gewöhnungsbedürftig ist. Einflüsse aus dem französischen und italienischen Kulturkreis sind unverkennbar.
Die Mehrzahl der Zofingersektionen besitzt für die Veranstaltungen ein eigenes Haus, was in der Schweiz aussergewöhnlich ist. Dass Aktive auf dem Haus wohnen, ist hingegen die Ausnahme, so dass es keinen Dauerbetrieb wie auf deutschen Korporationshäusern gibt. Entsprechend gibt es auch keine „Berufsaktiven“; für Zofinger ist das Aktivsein ein studienbegleitendes und kein studienverhinderndes Engagement.
Zofinger sind in sämtlichen demokratischen Parteien rechts bis links der Mitte zu finden. Das Schwergewicht liegt deutlich im bürgerlichen Spektrum. Der Verein als solcher ist parteipolitisch neutral, konfessionell nicht gebunden und nimmt seit rund fünfzig Jahren auch Nichtschweizer auf, jedoch bis heute keine Frauen. Dass in den 1990er Jahren ein türkischstämmiger Muslim Centralpräsident wurde, erregte bei Journalisten wesentlich grösseres Aufsehen als bei den Zofingern selbst. Zumal der Betreffende schweizerischer ist als die meisten Schweizer – ich weiss es, denn wir waren gemeinsam aktiv.
Theologiestudenten treten heute kaum noch in die Zofingia ein, ebensowenig andere Geisteswissenschaftler, was die linke Dominanz in diesen Fakultäten widerspiegelt. Das Gros der Aktiven sind Wirtschafts- und Rechtsstudenten sowie Naturwissenschaftler. Viele Zofinger werden Milizoffiziere. Insgesamt hat der Zofingerverein staatstragenden, patriotischen Charakter, versteht sich aber als „freie Schule freier Überzeugungen“ und ist deshalb offen für viele Ideen, solange ein demokratisch-freiheitlicher Rahmen gewahrt ist. Seine Devisen heissen „patriae, amicitiae, litteris“, was Theresianen sehr bekannt vorkommen dürfte.
Der Zofingerverein pflegt zu anderen couleurstudentischen Verbänden keine offiziellen Beziehungen. Am nächsten stünden ihm wohl die Burschenschaften (wegen der gemeinsamen freiheitlich-republikanischen Ziele, jedoch auf die Schweiz statt auf Deutschland ausgerichtet – siehe den oben hergestellten gründungsgeschichtlichen Bezug) und der Wingolf (wegen der ursprünglich starken Verankerung in der reformierten Kirche, ohne aber religiöse Ziele zu verfolgen). Aber zu allen ausländischen wie auch zu den anderen schweizerischen couleurstudentischen Verbänden gibt es jeweils klare Abgrenzungen, die eine offizielle Kooperation nicht nahelegen. Auf persönlicher Ebene jedoch werden zahlreiche Kontakte gepflegt. Aktiven Zofingern ist es nicht erlaubt, zusätzlich ausserhalb des Zofingervereins aktiv zu werden.
Typisch zofingerisch ist, dass die Ausnahme immer wieder die Regel bestätigt: Es gibt durchaus einzelne Zofinger, die nie ein Gymnasium besucht haben; andere haben eine Mensur gefochten oder tragen das Band einer weiteren Korporation. Und gegen den weltbekannten Kommunistenversteher Jean Ziegler scheiterten aus Toleranzüberlegungen zwei Ausschlussverfahren, bis er selber einsah, dass er das demokratische Spektrum verlassen hatte und schliesslich von sich aus austrat.
Dem Zofingerverein wohnt eine latent isolationistische Haltung inne, wohl aufgrund der Tatsache, dass er der älteste und zweigrösste couleurstudentische Verband in der Schweiz ist und bereits in sich eine grosse Vielfalt beherbergt. Ein Rolle dürfte aber auch spielen, dass er ursprünglich die Vereinigung sämtlicher schweizerischer Studierenden anstrebte, was 1832 mit der Abspaltung der Helvetia und dann endgültig 1841 mit der Gründung des katholisch-konservativen Schweizerischen Studentenvereins scheiterte.
Seitens sehr commentbeflissener Verbindungen wird gelegentlich behauptet, die Zofingia sei gar keine Verbindung, sondern lediglich ein Verein. Dem widersprechen Lebensprinzip, Farbentragen und Comment (so eigenartig dieser auch sein mag). Gegenüber besonders steilen Couleurstudenten ist der Zofinger gerne bereit, ein fast schon corpsstudentisches „Schäbigkeitsprinzip“ an den Tag zu legen und damit Angriffe solcher Art zu unterlaufen – zumal er, sofern Armeeoffizier, nach dem Paukcomment des Schweizerischen Waffenrings ja auch satisfaktionsfähig ist …
Insgesamt ist der Schweizerische Zofingerverein ein couleurstudentischer Verband sui generis, traditionsbewusst und patriotisch, vielfältig und weltoffen. Und so kann es denn sein, dass ein Zofinger konservativ-liberaler Ausrichtung mit österreichischen Wurzeln sich auch im Kreis der Theresianen sehr wohl fühlt …
Bbr. Reinhard Obermüller, lic. iur., eMBA ist Oberst im Generalstab der Schweizer Armee.