Versucht man sich an einer Definition des Terminus der „katholischen Studentenverbindungen“, so könnte diese Vereine beschreiben, welche Männern zugänglich sind, und die sich zu den Prinzipien religio, scientia, amicitia und patria bekennen. Eine derartige Definition sagt jedoch über die Bedeutung, welche dem Couleurstudententum in der Gesellschaft, Politik, etc. des 21. Jahrhunderts zukommen soll, rein gar nichts aus.
Die Geschichte des Couleurstudententums ist dem Leser dieser Zeitschrift in aller Regel bekannt, und es ist auch nicht Ziel dieses Beitrags, das studentische Verbindungswesen historisch aufzuarbeiten. Um herauszufinden, welche Bedeutung katholischen Studentenverbindungen in der heutigen Zeit zukommt – oder anders gesagt (gefragt?) – zukommen soll, mag ein Blick in die Vergangenheit bzw. auf die historische Entstehung und Entwicklung derselben jedoch durchaus helfen.
Das farbentragende Studentenverbindungswesen entstand zum Ende der napoleonischen Kriege, am Beginn des 19. Jahrhunderts (1815 Urburschenschaft zu Jena). Die erste farbtragende katholische Verbindung, die Bavaria Bonn, wurde jedoch erst später, 1844 gegründet. Grund dafür war, dass zu Beginn des 19. Jahrhunderts, einer Zeit des „antiklerikalen“ Liberalismus, ein katholisches Vereinswesen letztlich noch nicht existent war. Mit Aufkommen des katholischen Vereinswesens entstanden auch katholische Verbindungen. Sie entstanden quasi als „katholischer“ Gegenpol zu den bereits existierenden Studentenverbindungen, wie Burschenschaften, Corps oder Landsmannschaften (schlagende Studentenschaft), und übernahmen von den Letztgenannten auch Erscheinungsbild, Comment und Brauchtum (mit Ausnahme von Mensur und Duell). Die Gegnerschaft zwischen den damaligen „eingesessenen“ Studentenverbindungen und den katholischen „Neulingen“ ist wahrlich kein Geheimnis. Die Beziehung der beiden Strömungen war feindselig, die Art des Umgangs miteinander keine, welche man mit dem Begriff der academia auch nur im Entferntesten in Verbindung bringen möchte. Das Verhältnis war geprägt von Respektlosigkeiten, Anfeindungen, Kämpfen, etc.
Nach Entstehung und akademischen Kulturkämpfen findet sich auf der historischen Zeitleiste ein Jahrhundert voll von Ereignissen, wie z.B. die beiden Weltkriege, die Entstehung der Europäischen Union (in Form ihrer Vorgängerin, der EGKS bzw. der Europäischen Gemeinschaften) u.v.m., bis wir im heutigen, 21. Jahrhundert überhaupt erst einmal ankommen. Diese im Detail unter dem Gesichtspunkt des Couleurstudententums bzw. durch dessen Brille zu beleuchten, ist schlicht utopisch und würde den Rahmen dieses Beitrages jedenfalls sprengen. Wie bereits eingangs angedeutet, kann überhaupt dahingestellt werden, ob die Darstellung der Bedeutung des Couleurstudententums im 21. Jahrhundert eine historische Aufarbeitung ihrer Geschichte überhaupt erfordert. Das stimmte jedenfalls dann, wäre das Couleurstudententum eine Naturwissenschaft, deren Entdeckungen durch objektiv belegbare Formeln und Erkenntnisse belegt werden würden, und deren Fortbestand daher zeitlos und unabhängig von den kulturellen, sozialen, gesellschaftlichen, politischen sowie wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und Gegebenheiten – daher in gewisser Weise abstrakt – beurteilbar wäre.
Es ist evident, dass das Studentenverbindungswesen dies jedenfalls nicht ist, und es „ein Couleurstudententum“, dessen Bestand und Bedeutung losgelöst von der eingangs erwähnten Formel ohne Bezugnahme auf die zeitlichen Rahmenbedingungen und Gegebenheiten ist, schlicht nicht gibt. So gibt es auch nicht „die Philosophie“, welche objektiv erforschbar ist, oder „die Vernunft“ als einen objektiven Maßstab, obwohl man das – allen voran Hegel, dessen Thesen von Schopenhauer und später Nietzsche jedoch starke Kritik erfuhren – bis ins 19. Jahrhundert glaubte. Blickt man auf die Geschichte der Philosophie, dann war es in der Antike ja nicht so, dass die Philosophie von Platon oder Aristoteles zuerst war und es dann daneben noch ein kulturelles, soziales, gesellschaftliches, politisches und wirtschaftliches Leben gab. Es war genau umgekehrt, auf den Straßen Athens existierte ein – kulturelles, soziales, gesellschaftliches, politisches, und wirtschaftliches – Leben, in dem Platon und Aristoteles ihre philosophischen Gedanken entwickelten und dachten. Philosophie, oder auch Recht, entstehen durch Lebenssachverhalte. Daher sind philosophische Gedanken und ist auch die Entstehung von Recht vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen zeitlichen Umstände zu betrachten und zu beurteilen. Diese Berücksichtigung der jeweils vorherrschenden kulturellen, sozialen, gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten ist aber genau das, was letztlich zu einer unterschiedlichen Bewertung ähnlicher oder gleicher Lebenssachverhalte zu unterschiedlichen Zeitpunkten in der Geschichte führen kann.
Um dies anhand eines Beispiels aus der Rechtswissenschaft zu illustrieren, so sind z.B. im Bereich der Rechtsphilosophie Vertreter des Rechtspositivismus (z.B. Hans Kelsen, Gustav Radbruch) nach den Gräueltaten im 2. Weltkrieg von einem strengen Positivismus abgegangen und haben naturrechtliche Ansätze in ihre Theorien einfließen lassen. In einfachen Worten ausgedrückt, haben sie ihre Theorien und Ansätze insofern überdacht, als nicht mehr alles streng positivistisch Recht war, was vom Staat vorgegeben wurde, und zwar unabhängig davon ob es ‚gerecht‘ war oder nicht (da dem rechtspositivistischen Ansatz zufolge Recht von Ethik und Moral grundsätzlich getrennt ist), sondern wurde diese Absolutheit durch naturrechtliche Einflüsse aufgeweicht. Es entwickelten sich daher „Mischansätze“ aus Rechtspositivismus und Naturrecht. Diesen zufolge wurde die Absolutheit des Rechtspositivismus durch geltende „Grundprinzipien“ (wie der Idee der Gerechtigkeit, Gleichheit, Rechtssicherheit etc.) beschränkt bzw. aufgeweicht. Daher durfte und konnte Recht nicht extrem ungerecht sein oder gegen Gerechtigkeit und Grundwerte in unerträglichem Maß verstoßen (entspricht sinngemäß der „Radbruchschen Formel“ [Gustav Radbruch 1878-1949]).
Genau diese Grundwerte und „Überprinzipien“ sind es aber, die aufgrund ihrer Unbestimmtheit, abhängig vom zeitlichen Kontext und dem jeweiligen gesellschaftlichen Verständnis, zu einer unterschiedlichen Beurteilung gleicher Sachverhalte führen können. So ist z.B. Gerechtigkeit nicht objektivierbar, weil es immer subjektive Aspekte der Gerechtigkeit gibt, diese bzw. ihre Bedeutung daher vom subjektiven Empfinden eines Einzelnen beeinflusst wird (Sinngemäß Kelsen, Was ist Gerechtigkeit? [1953]). Als Beispiel dient in diesem Zusammenhang z.B. das Frauenwahlrecht in Österreich, welches bis 1918 nicht existierte. Vor 1918 war es daher rechtens und wurde nicht als ungerecht empfunden bzw. widersprach es keinem Gleichbehandlungsgrundsatz oä (In der Schweiz wurde das Frauenwahlrecht erst im Jahr 1971 eingeführt.), dass Frauen vom politischen Willensbildungsprozess ausgeschlossen waren. Ähnlich verhält es sich mit der Tatsache, dass verheiratete Frauen erst seit 1975 ohne die Zustimmung ihres Mannes arbeiten gehen dürfen. Ein weiteres Phänomen, das die Bedeutung von Veränderungen und Entwicklungen der kulturellen, sozialen, gesellschaftlichen, politischen sowie wirtschaftlichen Rahmenbedingungen bei der Beurteilung und Bewertung von gleichen Lebenssachverhalten sichtbar macht, ist das Rechtsinstitut der zivilen Ehe, welches nunmehr, seit einem Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs aus dem Jahre 2017 (Erkenntnis vom 4.12.2017, G 258-259/2017-9), auch gleichgeschlechtlichen Paaren offensteht.
Die Frage also nach dem Couleurstudenten und seiner Bedeutung im 21. Jahrhundert ist keine, die losgelöst von kulturellen, sozialen, gesellschaftlichen, politischen sowie wirtschaftlichen Entwicklungen betrachtet und beantwortet werden kann. Auch ist es keine Frage, die dieser Beitrag abschließend zu beantworten vermag, geschweige denn auch könnte. Nach Meinung der Autoren ist es vielmehr der Dialog, welcher in der Lage ist, über die Bedeutung des Couleurstudententums im 21. Jahrhundert Aufschluss zu geben. Von Bedeutung sind in diesem Zusammenhang Fragen der veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen im Vergleich zu jenen Gegebenheiten, welche zur Zeit der Entstehung des katholischen Studentenverbindungswesens vorherrschten. So mag beispielsweise die Tatsache, dass Mitte des 19. Jahrhunderts das universitäre Umfeld jedenfalls ein von Männern dominiertes war, durchaus eine Rolle in Zusammenhang mit der „Nichtmitwirkung“ von Frauen in der Entstehung des katholischen Couleurstudententums spielen bzw. Grund dafür sein. Während der katholische Couleurstudent der damaligen Zeit in einen „Kulturkampf“ gegen die schlagende Studentenschaft für eine Gleichberechtigung der katholischen Studentenverbindungen an den Universitäten verwickelt war, kämpften Frauen (noch) um eine grundsätzliche Gleichberechtigung bzw. Gleichstellung auf den unterschiedlichsten gesellschaftspolitischen Ebenen (Universitätszugang, schulische Ausbildung, Mitwirkungsrechte im Allgemeinen etc.). Vor diesem historischen Hintergrund mag sich das Verhältnis zwischen Couleurstudententum und Frauen zum damaligen Zeitpunkt gewissermaßen selbst erklären.
Die gesellschaftspolitischen Gegebenheiten der heutigen Zeit zeichnen ein grundsätzlich anderes Bild. So hat sich unsere Gesellschaft weiterentwickelt, und es gibt keine gesetzliche Ungleichbehandlung mehr zwischen Männern und Frauen. Das ist Faktum und objektiv feststellbar, jedoch losgelöst von der Frage, ob dieser „veränderte Lebenssachverhalt“ in Hinblick auf das Couleurstudententum nun anders bewertet werden soll oder aber nicht. Losgelöst bedeutet jedoch keinesfalls unbeeinflusst. Wie oben ausgeführt, ist es kulturellen, sozialen, gesellschaftlichen, politischen sowie wirtschaftlichen Veränderungen bzw. veränderten Rahmenbedingungen quasi immanent, neue, veränderte Sichtweisen zumindest freizulegen.
Wenn Sie, lieber Leser, nun vielleicht der Meinung sein mögen, wir argumentierten hier für die Aufnahme von Frauen in katholische Studentenverbindungen, dann müssen wir relativieren. Dafür müssten die Frauen das zum einen überhaupt auch erst einmal wollen (jemandem ein Recht zu geben ist das eine, ob dieses vom anderen tatsächlich beansprucht und angenommen wird, er das – im weiteren Sinne – überhaupt will, das andere). Das zu beurteilen, bin ich leider nicht in der Lage bzw. wäre es anmaßend davon auszugehen, ich als Mann könnte das. Als Erstautorin Frau will ich das persönlich nicht, zumal couleurstudentische Frauenalternativen ja existieren. Das Problem bzw. die Herausforderung liegt bei den katholischen Studentenverbindungen und Ihrem Wollen, sich kulturellen, sozialen, gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Veränderungen mehr oder weniger anzupassen. Anhand dieses Beispiels lässt sich sehr plastisch darstellen, wie wichtig es ist, über gesellschaftspolitische Veränderungen und Entwicklungen zu diskutieren, im Dialog zu bleiben, eigene Standpunkte, Meinungen und Grundsatzeinstellungen zu hinterfragen, neue Zugänge und alternative Varianten durchzudenken, und zwar unabhängig davon, ob man seine Sichtweise auf die Dinge dann letztlich tatsächlich ändert oder nicht. Es gibt nicht „das Couleurstudententum“. Es gibt Werte des Couleurstudententums – ja, unbestritten – jedoch wird diesen Werten durch jene Bedeutung geschenkt, die sie leben und praktizieren, und die diese Begrifflichkeiten dadurch letztlich mit Bedeutung und Leben füllen. Wenn man das Couleurstudententum vergleichen möchte, dann ist es eben gerade keine Naturwissenschaft (mit Naturgesetzten und ‚absoluten‘ Regeln), sondern fällt es allenfalls in den Bereich der Kulturwissenschaft.
Gesellschaften entwickeln sich nur weiter, wenn sie sich kritisch mit sich selbst und ihren Entwicklungen auseinandersetzen sowie Ansichten und Meinungen hinterfragen und in Frage stellen. Das kennen wir seit Sokrates, der die Ansichten und Meinungen seiner Gesprächspartner im Dialog gewissermaßen „systematisch“ hinterfragte, um absolute Überzeugungen zu entkräften bzw. um Unstimmigkeiten aufzudecken. Es geht also darum, Dinge nicht als absolut gegeben hinzunehmen, ohne sie zu hinterfragen bzw. sie neudeutsch zu „challengen“, sich Diskursen zu stellen, Raum für Begegnung, Austausch, Kontroverse, freie Meinungsäußerung und freies Denken zu schaffen – sich also konstruktiv zu streiten. Dies versucht etwa der Journalist Bastian Berbner in seinem kürzlich in der Zeit erschienen Artikel ‚Mit euch kann man doch eh nicht reden‘ (https://www.zeit.de/2018/39/de...), und zwar mit einer Grünen, einem Verschwörungstheoretiker und sogar mit einem Neonazi. Der Aufsatz unterstreicht einmal mehr, wie wichtig (Meinungs-)Austausch ist, wie wichtig es ist, zuzuhören, andere Meinungen anzuhören, eigene Ansichten zu hinterfragen und sich Diskursen zu stellen und zwar mit ALLEN. „Mit dem red ich nicht, der ist ein Linker, ein Rechter, ein Konservativer, ein Liberaler …“ ist wohl gleich wenig akademisch wie die Grabenkämpfe zwischen den schlagenden und katholischen Studentenverbindungen in ihren Anfangszeiten. Die Frage der Bedeutung des Couleurstudententums in unserer Gesellschaft heute lässt sich daher nur durch ein konstruktives, akademisches „Streiten“ aufklären. Dies ist es daher, was es – ähnlich wie früher in der Geschichte unter verschiedensten, anderen Rahmenbedingungen – für den Couleurstudenten bzw. das Couleurstudententum im 21. Jahrhundert zu tun gilt, im Interesse unserer Heimat, ihrer Menschen, der Umwelt und allem, was es sich darin lohnt, dafür zu leben und wertzuschätzen.
Mag. iur. Bernadette Zelger, LL.M., ist Universitätsassistentin und Absolventin der Universität Innsbruck, des King's College London und der Queen Mary University of London sowie in Österreich ausgebildete Rechtsanwältin.
Kbr. Univ.-Prof. Mag. rer.soc.oec. Dr. med. Bernhard Zelger (AMI, AIn) ist renommierter Dermatologe, als solcher Oberarzt der Innsbrucker Universitätsklinik für Dermatologie, Venerologie und Allergologie. Innerhalb der AV Austria Innsbruck bekleidet er seit vielen Jahren das Amt des Ehrenseniors.